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Luftwurzeln in Altenheim Hill

Reise durchs Mythengestrüpp der deutsch-amerikanischen Freundschaft: Thomas Meineckes Roman „The Church of John F. Kennedy“ erzählt von blauäugigen Bohemiens und böhmischen Dörfern. Kettensägenmassaker sind auch nie weit  ■ Von Thomas Groß

Als Willy Brandt Bundeskanzler war, war auch Wim Wenders noch ein Star, und zünftige Amerikareisen deutscher Kulturflüchter hatten von Ost nach West zu führen, wo der Held Frieden und San Francisco fand. Wenzel Assmann aus Mannheim, dem Reisenden in Thomas Meineckes Roman, ist nicht nur diese schöne Linearität abhanden gekommen. Von Dornbirn her (Sie verstehen: 100 Jahre Kohl) aufgebrochen, zuletzt ein mühevolles Dasein als „Kleindarsteller des Bayrischen Staatstheaters“ fristend, steckt er in der Neuen Welt schon bald auch wieder in der Alten. Boerne, Bergheim, Des Allemands heißen die Orte, durch die er auf Autowanderschaft kommt. Noch im tiefsten Süden der USA (Sie verstehen: Roots!) stößt er auf Spuren deutscher Einwanderer, die Assmann zu dem Gedanken verführen, das weite Land, „von Anfang an Kadenz auf Alteuropa“, sei nichts weiter als „eine moderne deutsche Variation“.

Belege dafür finden sich scheinbar zuhauf. Die kleinstädtischen Archive, die der Reisende im Tausch gegen deutsche Telefonnummern aus dem Kofferraum einsehen darf, erzählen von königlich bayrischen Luftschiffen, die im 19. Jahrhundert über der Staubschüssel gesichtet wurden; von badischen Revolutionären, die zu Beratern Lincolns aufstiegen oder unter die Indianer fielen; von Sally Müller, der „weißen Sklavin“, einer nur an ihren erogenen Muttermalen erkannten Immigrantin und Elsässerin. Auch hat es der Held mit einer böhmischen Tochter namens Barbara Kruse, die mit „prallen Tüten“ (Sie verstehen ...) frischer Wecken zum Frühstück aufwartet – „einszwei, einszwei, so ging die Polka gleichen Namens“.

Stuck inside of Mobile with the German blues again? Ein „gefährlich flüchtiger Gedanke“, der, obwohl nach Lage der Dinge ein Wunsch in ihm steckt, mit den Mitteln des Roadmovie bekämpft sein will. Assmann, als solcher Arsch wie Gearschter zugleich, fährt und fährt, doch er befindet sich in einer seltsam zirkulären Bewegung. Und, auch das begreift man bald: die vielen Ortsnamen, die den Weg säumen, sind zwar teilweise identisch mit jenen, die der Musikethnologe Meinecke für real erschienene Kompilationen deutschstämmiger Folklore aufgesucht hat, ergeben im Roman aber keine geschlossene Topographie. Durch Ellinger, Weimar und Altenheim Hill reist Wenzel mehr wie durch einen (trivial-)mythischen Text, der diverse Subtexte, aber keinen Ursprung kennt. Immer fallen dem Helden unterwegs zugleich Filmszenen ein, in denen hinterlistig aufgestellte Umleitungsschilder „böse Kettensägen und Tröge voller Blut erahnen ließen“. Und wenn der Katzenfisch aus dem Schlamm gezogen wird, dreht sich im Geiste eine Single von Creedence Clearwater Revival mit, die ja bekanntlich auch nur Fake-Südstaatler waren.

Mehr als Logbuch einer Landpartie ist „The Church of John F. Kennedy“ eine Reise durch die Amplituden deutsch-amerikanischer Wechselströme. Auge, Mund und Ohr sind unwiderruflich amerikanisiert, mediatisiert, mehrfach im- und wieder exportiert. Nur über diese Brechung, die der Erzähler „transatlantische Dialektik“ nennt, treibt der Text seine Luftwurzeln, greift nach Anhaltspunkten, um allerdings immer wieder „vom tiefsten Inland in das befremdlichste Ausland zu stürzen“ und umgekehrt. „Häßliche Szenen im ZDF“ hat die daheimgebliebene Freundin Erika im Anschluß an die deutsche Vereinigung gesehen: gedemütigte sächsische Arbeiter etwa, die „zu allem bereit sind“, sogar, sich umschulen zu lassen. „Ab hier war dann absolut Sense, so Erika, die sich immer schon gern auf die Seite der Betrogenen gestellt hatte“, ist noch zu erfahren, bevor der Text sich ein weiteres Mal dramatisch windet, um schließlich ins Leere zu laufen: „Ein paar Worte noch über das Für und Wider des Terrorismus, dann hing der Hörer wieder am Haken.“

Die Volte ist typisch für den Meineckeschen Textprozeß, und, ja, das hat was von Kafka. Wann immer der Reisende einen Erkenntnis- und Orientierungsgewinn davonzutragen meint, ob im Rekurs auf den starken Arm der Arbeiterklasse oder leichthin memorierte Fundamentalstaatsfeindschaften, prescht die Indirektion dazwischen und bedeutet quasi telefonisch: Der Sinn ist ein Pferd, das sich von blonden Cowboys wie Wenzel nicht reiten läßt. „Amerika“ ist – wie „Deutschland“ – stets woanders, es wohnt, wenn überhaupt wo, in den unendlichen Verschiebungen unterirdischer Verkabelungen und rotierender Plattenteller.

Der Literaturwissenschaftler Hubert Winkels hat diesen Ausbruch zur Seite, in Busch und semantischen Untergrund schon anhand von Meineckes erstem Kurzgeschichtenband kommentiert. Die Bewegung geht „Mit der Kirche ums Dorf“: Was immer an Trashreden, Diskursoberflächen und sonstigem Bedeutungsabfall den global gewordenen gesellschaftlichen Rederaum durchtobt, wird um eine bodenlose Mitte herum arrangiert, die sich vergeblich nach den entschwundenen Signifikaten streckt. Heiterer Pop- Single-Nihilismus, so die Konsequenz, ist traurigen Vergeblichkeitsgesten vorzuziehen. Es hieß dieses subkulturelle Verfahren seinerzeit: Second-Order-Historisierung, Legende vom fortlaufenden Schwachsinn oder, griffig, Zitat- Pop.

Damit ließ sich eine hübsche Weile ganz lustig leben und Sozialdemokraten verschüchtern, die in der Toscana immer noch auf der Suche nach dem „Echten“ waren. Allerdings hat sich auch das entschwundene Zentrum seit den Achtzigern, Meineckes Anfängen als populärem Arrangeur der öffentlichen Rede, entscheidend verschoben. Schuld ist, den Effekten des Texts zufolge, nicht nur die deutsche Vereinigung mit ihren völkischen Konnotationen, sondern auch die gewachsene Einsicht in die Rassismen aus dem transatlantischen Jenseits. Meineckes „dandyistisch geschulter Mannheimer“ begegnet verbitterten Vietnamveteranen und drallen Prärierosen ebenso wie fundamentalistischen Nation-of-Islam-HipHoppern sowie mehrfach gewendeten, in ihrer totalen Künstlichkeit schon wieder naiv anmutenden Töchtern religiöser Ursektierer. Das alles führt bei Wenzel & Co. zu der Erkenntnis, „daß auch jenes Schwungrad, das sie selbst vor bald fünfzehn Jahren in Gang gesetzt hatten, längst absolut im Leeren lief und doch weiterhin Themen schuf, Pseudo-Themen [...], die mit der Wirklichkeit einer längst partisanisch gewordenen Gegenkultur nicht den geringsten Zusammenhalt mehr besaßen, und doch nichts sehnlicher als einen solchen stets zu beschwören versuchten“.

Subkultur als Auslaufrille? In derart besinnlichen Momenten liest sich Meineckes Roman wie der paradoxe Versuch, mit den Mitteln des Zitatpop aus dem Zitatpop auszubrechen. Der spürbare Wunsch, sich aus dem Mythengestrüpp der deutsch-amerikanischen Freundschaft heraus sozial zu erden, gar noch einmal die Lieblingsidee „von der Mobilisierung einer außerparlamentarischen Opposition“ zu befördern, spannt sich vom aufgeschnappten Elend postsozialistischer Verwerfungen und deren Redeweisen über verwegene Erotizismen bis hin zu fiktiven Dialogen mit geschlechtstranszendierenden Bohemiens, die in Rollheimerwagen eloquent über die sexuellen Ambivalenzen des Fortschritts zu philosophieren wissen. Und das kommt uns Pet Shop Boys und Pappenheimern natürlich sehr bekannt vor: Wer sich für populäre Kultur im Wandel der Zeiten interessiert, kriegt noch einmal all die zentralen, allerdings jenseits des kulturellen Mainstreams geführten Diskussionen und Issues der letzten Jahre vorgeführt, vom untergründigen Revival des Hardcore-Marxismus bis hin zur Gender-Debatte – ohne daß letztlich ein Weg aus den unzähligen Kurven des Textes herausführt: „Hier weiß bald keiner mehr, ob er Männlein oder Weiblein ist, schloß Erika ihre erhitzten Ausführungen ab.“ Daß alles im Kreise sich dreht, keine Entwicklung, keine psychologische Tiefe mehr ergibt, wie sie bis heute von Mensch wie Roman gefordert wird, im weiteren Sinne aber naturgemäß auch keine subkulturelle „Strategie“, ist freilich schon konzeptuell vorgegeben. Meineckes Figuren haben keine Seelen, sie sind Deklamatoren fremder Reden. In ihrem unermüdlichen Philosophieren über Gott, die Welt und die subjektlose Krise des warenproduzierenden Systems sind sie längst zu dessen Agenten geworden. Der Beat geht einfach nur weiter.

Hier klingt ein müdes, gelegentlich leicht höhnisches Lachen aus den Achtzigern herüber, und die Anlage des Textes als Preßmaschine der „subversiven“ Kneipenredenverschnitte läßt es offen, ob die primäre Note der Kritik den stumpf geworden Waffen der „New Wave“-Generation gilt, oder ob tatsächlich alle neueren Versuche, poplinkerseits politischen Boden zu gewinnen, generalenttäuscht mit in den Strudel jenes Mahlstroms gerissen werden sollen, der vormals modisch „Simulation“ genannt zu werden pflegte.

Im letzteren Falle wäre das Kriterium möglicher Einsicht oder gar Intervention in „die Verhältnisse“, so pathetisch das heute daherkommen mag, vielleicht etwas zu leichtfertig dem Geschmack am Pflücken bodenlosen Kommunikationstrashs geopfert.

„Nimm dir einen Regelkreis, und tu dich mittenrein“, heißt die berühmteste Zeile der Band Freiwillige Selbstkontrolle, in der Meinecke bis dato maßgeblich mitspielt. Die Konsequenz damals wie heute: „Schnell erhältst du den Beweis: Besser kann die Welt nicht sein.“

Thomas Meinecke: „The Church of John F. Kennedy“. Suhrkamp 1996, 245 Seiten, 19,80 DM

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