: Prügel und Schüsse für die Teilung Zyperns
Jahrelang war der Zypernkonflikt vergessen, die Teilung der Insel international kein Thema mehr. Seit dem Sommer wurden drei griechische Zyprioten von der türkischen Armee an der Demarkationslinie getötet. Mord in der Pufferzone oder eine neue Welle gezielter nationalistischer Provokationen? Die Menschen in Nikosia resignieren allmählich ■ Aus Nikosia Klaus Hillenbrand
Die Ledra-Straße im Herzen Nikosias führt schnurgerade durch die Altstadt. In der Fußgängerzone parlieren Briten übers Wetter, Deutsche wägen den Preis einheimischer Lederschuhe ab, und die Einheimischen setzen sich zum Mittagessen auf die wackeligen Stühle bei Matthaus. Nebenan, in den Gassen des rekonstruierten Viertels Laiki Yitonia, werden Busladungen Touristen verköstigt, die auf eine Tagestour zur Besichtigung der zypriotischen Hauptstadt gekommen sind.
Eine der Attraktionen Nikosias befindet sich gleich am Ende der Ledra-Straße. Das heißt, eigentlich ist die Straße dort gar nicht zu Ende, sondern würde weiterführen ins türkische Quartier der Altstadt und zur großen Moschee, wenn da nicht quer über dem Weg eine massive Mauer gebaut wäre. Neugierige können die paar Stufen auf ihre Krone erklimmen, auf der sich Soldaten langweilen, und einen Blick dahinter wagen: Da wachsen Büsche und Gräser am Straßenrand. Die Geschäftshäuser sind nur mehr Ruinen, die Reklameschilder zur Unkenntlichkeit verblaßt. Dahinter weht die Flagge der Türkei in Rot und Weiß, und daneben ihr Ebenbild, nochmals die türkische Flagge, nur in Weiß und Rot.
Die „letzte geteilte Stadt Europas“ hat neben der Aussichtsplattform ein Miniaturmuseum eingerichtet, mit alten Fotos von Flüchtlingskindern, die mit großen Augen und Plakaten nach der Verbleib ihrer Eltern fragen, mit Bildern von Städten und Monumenten, die sich „drüben“ unerreichbar im türkisch besetzten Norden befinden. Dann liegt da noch eine Art Kondolenzbuch, in das die Besucher ihre guten Wünsche eintragen können. „Hoffentlich ist Nikosia bald wieder vereint wie Berlin“, schreibt da etwa ein deutscher Urlauber.
Danach sieht es nun eben gar nicht aus. Jahrelang war es an der Demarkationslinie zwischen der griechisch dominierten Republik Zypern und dem türkisch besetzten Norden ruhig geblieben. Verdächtig ruhig. Die UNO-Soldaten langweilten sich in ihren Unterständen an der Pufferzone, wenn sie nicht gerade eine Demonstration zyperngriechischer Schulkinder überwachten. Die Politiker wiederholten unisono ihre alten Forderungen – die Republik nach einem gemeinsamen Bundesstaat für alle Zyprioten, die zyperntürkische Führung für die Selbständigkeit der „Türkischen Republik Nordzypern“ und einen lockeren Staatenbund. Im Ausland schien das Zypernproblem unter Bergen diplomatischer Protokolle, Resolutionen und Appellen sanft entschlummert zu sein. Bis zu diesem Sommer.
Die letzten Schüsse fielen vor zwei Wochen: Türkische Soldaten nahmen zwei britische Armeeangehörige unter Feuer, die auf ihrer Basis nahe der Demarkationslinie zum besetzten Teil mit Markierungsarbeiten beschäftigt waren. Bei diesem Vorfall wurde niemand verletzt. Der letzte Tote war ein 58jähriger Mann, der Schnecken sammeln wollte. Er wurde Mitte Oktober von türkischen Soldaten erschossen, als er versehentlich die Pufferzone überschritten hatte. Davor war ein türkischer Soldat unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen.
Im August wurde der Zyperngrieche Solomos Sypros Solomou erbarmungslos aus nächster Nähe mit fünf Kugeln abgeknallt, als er aus Protest gegen die Besatzer einen Fahnenmast erkletterte, um die türkische Flagge zu entfernen. Danach schossen türkische Soldaten mehrere Salven in die Menge und verletzten vier Menschen, darunter zwei UN-Blauhelme.
Während einer Demonstration wurde Anastasios Isaak von türkischen Sicherheitskräften in der Pufferzone zu Tode geprügelt. „Zwei UN-Zivilpolizisten beobachteten zwei zyperngriechische Demonstranten, die von zwei Gruppen zyperntürkischer Demonstranten mit brutaler Gewalt geschlagen wurden“, heißt es in einem Bericht der UN-Friedenstruppe UNFICYP. „Die beiden UN-Polizisten kamen einem der Zyperngriechen zu Hilfe und ermöglichten seine Flucht. Als sie den zweiten Zyperngriechen erreichten und es ihnen schließlich gelang, die Zyperntürken beiseite zu schieben, war es zu spät.“ Rauf Denktaș, Führer der Zyperntürken und Hobbyfotograf, knipste das Ereignis aus sicherer Entfernung.
Die Mauer, die geteilte Hauptstadt Nikosia, die tödlichen Schüsse. Haben die türkischen Truppen einen Schießbefehl wie früher die Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze erhalten, wie zyperngriechische Regierungsvertreter vermuten? Oder provozieren radikale griechische Nationalisten ständig neue Zwischenfälle?
Georgios Hadjicostas betreibt einen Motorradladen in Strovolos, einem Vorort Nikosias. Der Mitvierziger, selbst begeisterter Ducati-Fahrer und Präsident des zypriotischen Motorradclubs, war auf die Idee gekommen, mit Helm und Maschine gegen die Teilung zu demonstrieren. „Von Berlin nach Kyrenia“, einer Kleinstadt im besetzten Norden, sollte die Fahrt gehen. „Wir wollten den Europäern zeigen, daß wir jedes Recht haben, uns dort zu bewegen, wo wir wollen“, sagt er. Die Reise endete in einer Katastrophe, als türkische Soldaten und extra eingereiste „Graue Wölfe“ aus der Türkei die Demonstrationsteilnehmer in der Pufferzone empfingen, etliche Menschen verletzten und Anastasios Isaak erschlugen.
„Wir haben nichts gegen die Zyperntürken“, versichert Hadjicostas in seinem winzigen Büro über seinen Motorrädern. Geplant gewesen sei, die Fahrt am Checkpoint an der Pufferzone enden zu lassen, sollte es türkischen Widerstand geben. Doch die Biker ignorierten einen Appell der Regierung, die in letzter Minute auf Druck der UN zur Absage der Demo aufrief. Sie ignorierten auch den Aufruf Hadjicostas', die Pufferzone nicht zu verletzen.
Ein paar gelbe Warnschilder, ab und an Stacheldraht und Hinweise auf vergessene Minenfelder: Auf dem flachen Land scheint die Demarkationslinie durchlässig und friedlich. Getarnten und mit Sandsäcken gepanzerten Unterständen der zypriotischen Nationalgarde und der türkischen Armee begegnet man nur alle paar Kilometer. Die UN- Posten mit der blauen Flagge sind dünn gesät. Versehentliche Verletzungen der Pufferzone hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben: Pilzsammler, Betrunkene oder wandernde Touristen, die vom Weg abgekommen waren. Und auch zyperngriechische Demonstrationen sind nichts Neues. Früher kam, wer absichtlich oder per Zufall besetztes Gebiet betrat, für ein paar Stunden oder Tage in den Knast und wurde prompt in den Süden zurückexpediert. Jetzt wird geschossen und zu Tode geprügelt.
In besseren Zeiten führte die Straße westlich Nikosias zum internationalen Flughafen. Doch seit der Teilung vor über sechsundzwanzig Jahren wächst auf dem Rollfeld Gras und verrotten die Empfangsgebäude. Eine ausgeschlachtete Maschine der „Cyprus Airways“ steht in einer Wartungshalle. Ihr letzter Flug sollte im August 1974 Urlauber aus Manchester in die Sonne bringen. Sie flogen in den Krieg. Neben dem Flughafen haben die UN-Friedenstruppen ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Auf zyperngriechische Vorwürfe, die UN habe die jüngsten Zwischenfälle nicht verhindert und sei deshalb mitschuldig am Tod von Menschen, reagiert man hier ausgesprochen allergisch. „Wir sind doch keine Antiaufstandspolizei“ heißt es. Tatsächlich habe die zyperngriechische Polizei versagt, denn sie sei schließlich vertraglich dazu verpflichtet, die Verletzung der Pufferzone zu verhindern. „Die an der Waffenstillstandslinie stationierte zyperngriechische Polizei verließ den Checkpoint und ermöglichten so den Demonstranten das Eindringen in die Pufferzone“, so ein UN-Bericht.
Das wäre nicht allzu verwunderlich, denn inhaltlich waren sich Demonstranten und Polizisten schließlich einig. Daß auch UNFICYP durch die Reduzierung ihrer Stärke auf weniger als 1.200 Mann an Effektivität verloren hat, hört man bei den Blauhelmen dagegen nicht so gerne.
„Ich vergesse nicht.“ „Vergiß nicht die türkische Invasion.“ Plakate und Wandinschriften wie diese zieren die Unterstände der zyperngriechischen Nationalgarde an der Demarkationslinie. Als ob jemand vergessen könnte: 165.000 Menschen sind 1974 vertrieben worden: eine ethnische Säuberung, lange bevor dieser Begriff erfunden war. Zwischen der Republik Zypern und dem türkisch besetzten Norden gibt es keine diplomatischen Beziehungen, keine Post, keine frei zugängliche Telefonleitung und keinen regelmäßigen Grenzverkehr. Es gibt nur das ehemalige Luxushotel „Ledra Palace“, das nach dem Krieg zwischen den Stacheldraht und mitten in die Pufferzone fiel und den Friedenstruppen als Kaserne dient. Hierher lädt die UN unregelmäßig griechische und türkische Zyprioten zu gemeinsamen Veranstaltungen ein. Zuletzt am 30. September trafen sich dort 400 Angehörige der angeblich so tief verfeindeten Volksgruppen zum gemütlichen Beisammensein. „Das läuft alles ganz prima“, versichert ein Teilnehmer. Besuche von Zyperntürken jenseits der Demarkationslinie fielen dagegen in jüngster Zeit ins Wasser: Die Teilnehmer erhielten von der eigenen Administration keine Genehmigung.
„Umbringen sollte man die Türken, alle umbringen.“ Der Mann vor dem Kaffeehaus redet sich in Rage. Viel ist in Nikosia in diesen Tagen die Rede von der „Befreiung der Heimat“, von den „Mördern“ im Norden. Die getöteten Demonstranten Anastasios Isaak und Solomos Solomou sind zu Märtyrern geworden. „Nur ein toter Türke ist ein guter Türke“ und „Wir sind gierig nach türkischem Blut“ stand auf T-Shirts, die erst kürzlich vor einer Kaserne zum Verkauf angeboten wurden. Das sei kein Nationalismus, wiegelt Regierungssprecher Yiannakis Cassoulides ab: „Das ist nur Dummheit.“ Doch auf freundliche Gesten über die Pufferzone hinweg warten die türkischen Zyprioten vergeblich. Das Regime im Norden ist nach Auffassung der Republik Zypern wie der restlichen Welt bis auf Ankara „illegal“.
Also besteht ein Wirtschaftsembargo der Republik, das freilich mehr die Menschen als die Machthaber trifft, von dem sich Cassoulides aber dennoch „nicht vorstellen kann, es zum jetztigen Zeitpunkt zu beenden“. Und zur Begründung: „Es stimmt, daß die Menschen im besetzten Teil darunter leiden, daß ihre Führung einen sogenannten Staat gegründet hat. Dieser Faktor ist der Grund für das Embargo.“
Die Furcht vor einer indirekten Anerkennung der „Türkischen Republik Nordzypern“ treibt die Insel in den kalten Krieg. Offizielle Beziehungen zu Institutionen im Norden sind praktisch unmöglich. „Wir können uns nicht offiziell treffen wegen der Gefahr der Anerkennung“, bedauert der Rektor der vor fünf Jahren gegründeten Universität, Miltiades Chacholiades, die fehlenden Kontakte zu Akademikern im Norden. Kommt die Wiedervereinigung zustande, dann soll die Uni eine multiethnische Institution werden. Schon heute kann man dort auch türkische Studien belegen.
Die konservative Regierung hat eine vollständige Entmilitarisierung und Garantien für die Rechte der Zyperntürken angeboten, aber einstweilen wird aufgerüstet. Neue russische T-80-Panzer rollten bei der alljährlichen Militärparade durch Nikosia. Das Manöver „Nikiforos“ wird stundenlang im staatlichen Fernsehen übertragen, mit dem Überflug griechischer Düsenjäger als Höhepunkt.
Daran, daß die Armee eine Chance gegen die türkischen Streitkräfte hätte, glaubt freilich niemand. Die Aufrüstung erhöhe den internationalen Druck zur Lösung des Konflikts und zwinge die USA zu mehr Anstrengungen, begründet ein zypriotischer Diplomat die Aktivitäten. Doch auch er gibt zu, daß diese Politik „sehr risikoreich“ sei.
„Wenn es kein Blutvergießen gibt, interessiert's niemanden“: Diese Art Resignation über den ungelösten Konflikt ist in Nikosia des öfteren zu hören. Die Zwischenfälle an der Pufferzone mögen Zypern erneut in die Schlagzeilen gebracht haben. Doch nützlich, wenn man dieses Adjektiv für den Tod von Menschen überhaupt gebrauchen will, nützlich waren sie nur für diejenigen, die getötet haben. „Sie wollen zeigen, daß griechische und türkische Zyprioten nicht friedlich miteinander leben können“, sagt Savvas, ein bekannter Architekt: „Sie wollen die Teilung“.
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