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Urbane Mythen Von Mathias Bröckers

Für die Verbreitung von Gerüchten, so glaubten die Römer, seien die tausend Ohren und Zungen der Göttin Fama verantwortlich; wie so viele archaische Vorstellungen scheint auch diese in der modernen Welt ihre Entsprechung zu finden. Die neue Herrin der Gerüchteküche, mit Millionen Ohren und Zungen, heißt Internet, und seit der antiken Göttin hat es wohl niemanden gegeben, der Fiktionen so erfolgreich zu Fakten promovieren kann wie das World Wide Web.

Der Mythos, die urheberlose Erzählung des voralphabetischen Zeitalters, feiert im global vernetzten Informationszeitalter fröhliche Urstände. Ist eine Nachricht erst einmal in das Netzwerk eingespeist, kann es ihr ergehen wie den geflüsterten Botschaften beim Kinderspiel „Stille Post“: Der Salat, der am Ende herauskommt, hat mit der ursprünglichen Nachricht nichts mehr zu tun. Anders als in der fröhlichen Kinderrunde ist es aber in dem Netz von Millionen Computern fast unmöglich, den Ursprung der Nachricht zu identifizieren und ihrem Wahrheits- oder Nonsensgehalt auf den Grund zu gehen. Der Journalist Arthur Goldstuck hat das jetzt am Beispiel eines kuriosen urbanen Mythos, der Anekdote über eine Putzfrau im Pelonomi-Krankenhaus in Free-State (Südafrika), gezeigt. Diese Putzfrau, die immer freitags den Boden im Krankenhaus polierte, soll dabei den Stecker der Lebensrettungssysteme herausgezogen, ihre Poliermaschine daran angeschlossen und, ohne es zu ahnen, zahlreiche Patienten getötet haben. Die Meldung erschien erstmals in der Lokalzeitung De Volksblad, wo sie als „angeblicher Zwischenfall“ bezeichnet wurde, dessen „Gerüchte“ von der Hospitalleitung untersucht würden. Die angesehene Tageszeitung Cape Times griff die Geschichte auf, ließ in ihrem Bericht allerdings die Begriffe „angeblich“ und „Gerüchte“ weg und ergänzte ihn mit dem wichtigen Einspruch: „Ein Krankenhaussprecher sagte, ihm sei von diesem Zwischenfall nichts bekannt.“ Doch von dort nahm die Meldung ihren Weg ins Internet und verbreitete sich im globalen Dorf wie ein Lauffeuer. Unter der Quellenangabe Cape Times wurde der Artikel fieberhaft kopiert, allerdings selten im Original, sondern umgeschrieben und meist ohne den von der Zeitung formulierten Einspruch. Aus der elektronischen Gerüchteküche fanden die wegpolierten Patienten dann ihren Weg zurück in die Zeitungsmedien und erschienen am 28. September im englischen Wissenschaftsmagazin New Scientist. Die Redakteure hatten die Geschichte im Internet aufgepickt und bei den Kollegen von der Cape Times telefonisch nachgefragt: „Ja, die Geschichte sei gedruckt und wahr.“ Also wanderte die mörderische Reinigungsfee in die „Feedback“-Spalten des renommierten Magazins – für Goldstuck „der nächste Schritt auf der Leiter der Glaubwürdigkeit“. Auf seiner Web-Seite hat Goldstuck die gesamte Entwicklung dieses urbanen Mythos dokumentiert mit allen Fortsetzungen bis hin zu völlig phantastischen Publikationen der Story. Ihre eigentliche Grundlage vermutet er in der Folklore. Doch ob es sich wirklich um eine völlige Fiktion handelt oder ob so etwas nicht doch irgendwo passiert sein könnte, darauf gibt es keine definitive Antwort. Putzteufel lauern überall – wie die Ohren und Zungen der Fama.

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