: Satanskult mit Familienwerten
Spektakel für Kinder von 8 bis 88: Die Retro-Rocker Kiss bei ihrem Bombardement der Berliner Deutschlandhalle. Bubblegumgefühle und einen hohen Mitgrölfaktor registrierte ■ Gerrit Bartels
So langsam darf sich auch die Generation, die mit den Stones, Beatles oder The Who nie was am Hut hatte, an Reunions erfreuen: Der Bombastrock der Siebziger liegt derzeit in Lauerstellung, und Kiss, die mit den Masken und dem Feuer, machen den Anfang. In Originalbesetzung und – viel wichtiger – im Originaloutfit caravanen sie seit Anfang diesen Jahres durch Amerika und Europa.
Wer genau auf diese goldene Idee gekommen ist, läßt sich nicht genau entschlüsseln: Kiss selbst, ihre Gläubiger, ihre Psychiater, MTV oder gar die Berliner Ärzte? Gegeben hat es Kiss immer, bloß „unmasked“ war der Lack etwas angekratzt. Die Zeit allerdings war reif, als Kiss insbesondere von den Grungern ihre Credits zuhauf bekamen. Kurt Cobain berief sich auf sie, Soundgarden hatten mit ihrem Song „Sub Pop Rock City“ das Kiss'sche „Detroit Rock City“ im Subtext mitstehen. Und selbst ein Country-Ei wie Garth Brooks coverte vor zwei Jahren „Hard Rock Woman“.
Ausgerechnet als Glitzer-und- Glamour-Pop à la Sweet und Slade seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, 1973/74, da fingen Kiss an, genau dieses harmlose Spielchen mit den Identitäten in eine Hardrockszenerie zu transportieren. Bei ihnen konnte man Hardrock als Comicstrip erfahren, der Bierernst der damaligen Szene, der auf Show und Leid zugleich setzte, erschien bei ihnen als große Verarsche. Das Design bestimmte das Bewußtsein, und wenn schon Bombast, dann bitte richtig. Vor diesen Figuren brauchten sich trotz Feuer, Flammen und einem dezenten Satanskult keine Eltern zu fürchten, zumal die Songs inhaltlich nicht mehr als Rock, Liebe und Amerika verhandelten.
Gefährlich waren bloß die beiden S im Bandnamen, die man, lange vor Punk, als Blitzsymbole, vor allem aber als SS-Runen interpretieren konnte, so daß die Band sie auf T-Shirts und Plattencovern irgendwann nicht mehr verwenden durfte.
In der seit September (!) ausverkauften Berliner Deutschlandhalle erstrahlt der Name jedoch auf einer Leinwand per Lichtspiel und auch auf den Drums im alten, zweifelhaften Glanz. Daß das bloß keiner petzt. Kiss sind halt zurück, mit allem Drum und Dran: mit fetter Lightshow, mit allerlei Pyrotechnik und in genau der Kostümierung, die sich seit über zwei Jahrzehnten ins Rock 'n' Roll-Gedächtnis eingeschrieben hat: Jeder der vier Musiker trägt haargenau dieselbe Maske wie ehedem, dieselben Plateaustiefel, dieselben Hosenträger und Flattermänner – allerdings können selbst die Bemalungen so manche Falte der mittlerweile streng auf die Fünfzig zugehenden Musiker nicht verbergen.
Paul Stanley hat den Part des Hosters und macht die üblich abgedroschenen, der Kommunikation mit dem Publikum dienlichen Ansagen („Can you hear me?“ „My mother was born in Berlin“ etc.) – das Publikum ist es zufrieden und bejubelt frenetisch jeden Song.
Wer gedacht hatte, die Berliner Ärzte, die huldvoll die Vorgruppe bildeten, wären die Lokomotive gewesen, die Kartenverkauf und Stimmung erst richtig anzieht, irrt: Glamourloses Hardrockpublikum ist das, keine Teens, kaum Kiss- Lookalikes, sondern alt gewordene Fans, die sich natürlich auch mit dem proletarisch-altklugen Charme der Ärzte anfreunden können.
Gene Simmons, den ich eigentlich immer für das Hirn der Band gehalten habe, beschränkt sich auf sein Spiel mit Bass, Zunge und dem angedeuteten Schwenken seines Gemächts. Bei ihm hat man gar das Gefühl, seine paar Gesangsparts kämen vom Band. Jeder der vier kommt mit einem Solo zum Zuge, was langweilig und ein fürchterliches Getrommel und Gegniedel ist – die Siebziger-Sozialisation halt; und auch die Songs geben auf ihre lange Distanz wenig her.
Das Bubblegumrockmäßige, das Teengefühl, das bei Kiss-Songs mit drinsteckt – man denke an Evergreens wie „Anyway You Want it“ oder „Tomorrow And Tonight“ –, will sich nicht recht einstellen. Obgleich natürlich Stücke wie das discolike „I Was Made For Lovin' You“ oder „Shout It Out Loud“ ihren Mitgröleffekt nicht verfehlen.
Alles ist Spektakel, alles Oberfläche, und selbst die Showchoreographie scheint dieselbe wie vor zwanzig Jahren zu sein: Am Ende werden alle vier an ihren jeweiligen Standorten mit fahr- und schwenkbaren Bühnenhebern emporgehoben, mit viel Brimborium versteht sich – ein Bild, das schon das Klappcover von „AliveII“ ziert. Retrotheatralik galore für immer und ewig und demnächst auch in Ihrem Theater.
Kiss und Die Ärzte: 11.12. Frankfurt/M., Festhalle; 12.12. Oberhausen, Arena; 20.12. Stuttgart, Schleyerhalle; 21.12. Dortmund, Westfalenhalle
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