: „Das Kunststück ist es, seine Nische zu finden“
■ Der Hamburger Komponist Manfred Stahnke im Interview über Macher und Hörer, Bedeutung, Schwierigkeiten und Chancen der sogenannten Neuen Musik
Zeitgenössische E-Musik hat heute kaum ein nennenswertes Publikum, während sie noch vor hundert Jahren große Säle füllte. Auch das Selbstverständnis der Komponisten und die Hörgewohnheiten des Publikums haben sich seitdem entscheidend geändert. Manfred Stahnke, selbst Komponist Neuer Musik, analysiert die Entwicklung.
taz: Warum hören so wenig Menschen Neue Musik?
Manfred Stahnke: Die klassische Neue Musik hat noch das Konzept der Trennung von Komponist, Interpret und Hörer. Das hat dazu geführt, daß der Hörer die komplizierten Strukturen der Komposition nicht nachvollziehen kann. Es ist wunderbar, als Musickenner solche Partituren zu analysieren. Als Hörer hat man diesen Spaß nicht.
Musik also quasi als Selbstbefriedigung für den Komponisten?
Irgendwie so. Aber auch als schönes Kunstwerk. Der Komponist gehorcht einer Denkweise, der letzten Endes nur er folgen kann. Er befriedigt sich selbst in dem kleinen Kreis der Leute, die das nachvollziehen können. Das ist wie ein Elfenbeinturm.
Was könnte die „Neue Musik“ dagegen tun?
Ich glaube, daß wir genauso kreativ sein können, wenn wir anders arbeiten. Ich denke da an Afrika. Die dortige Art, in der Gemeinschaft Musik zu machen, finde ich spannend. Hier treffen sich Gruppen, deren Stücke während des Musizierens in der Gemeinschaft entstehen. Das gibt es auch in der Neue-Musik-Szene: Die Musiker bringen ihre Vorschläge ein. Sie sind nicht mehr der Ausübende eines Werkes oder einer Partitur, sondern arbeiten eng mit dem Komponisten zusammen.
Welche Rolle spielen dabei die Musikhörer?
Sie können leider noch nicht mitmachen. In Afrika würden sie mittanzen oder mitsingen. Soweit sind wir noch nicht, das müssen wir in Europa wieder lernen. Das haben wir ja gehabt im Mittelalter, ich denke da an die Straßenmusik. Die war eine Aktivität der ganzen Gemeinschaft.
Welche Funktion sollte Musik für die Hörer haben?
Muß Musik eine Funktion haben? Auf jeden Fall sollte sie angenehm sein und schön. Ich habe einen Traum davon, was Musik sein kann. Sie sollte ein Bild darstellen von einem Gefühl oder einem Ereignis aus dem Wust von Erlebnissen, die wir jeden Tag haben.
Wie könnte sich die Komposition entwickeln?
Ich glaube, daß es im Moment keine umfassenden Leitfiguren für Musik mehr gibt, wie es Theodor W. Adorno war. Jeder Komponist scharrt kleine Grüppchen von Gleichgesinnten um sich. In Hamburg haben wir mindestens so vier oder fünf solcher Gruppierungen. Außerdem sind wir durch Computer und das Internet neu verbunden worden.
Ich selbst kenne ein paar Komponisten in Amerika und einen in Neuseeland, die die gleichen Vorlieben haben wie ich. Weltweit entstehen kleine „digitale Dörfer“.
Je kleiner die Gruppen, desto schwerer könnte es ihnen fallen, Hörer zu finden.
Ich denke, daß diese Nischen für ihre Hörer und auch für sich selbst sehr unterhaltend sind. Wenn die Komponisten gut sind, dann wissen sie, daß sie ihre Musik auch verkaufen müssen.
Das Kunststück ist es, seine Nische zu finden, in der man forschen kann, aber die Ergebnisse auch nach außen zu bringen.
Fragen: Judith Weber
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