: Wie Omar das Gedächtnis verlor
Wer auf dem idyllischen Sansibar gegen die Regierung ist, kann merkwürdige Dinge erleben: Die Arbeit wird gekündigt, das Haus geht kaputt ■ Aus Sansibar Bettina Rühl
Der Regen trommelt auf das Wellblechdach. Draußen fängt ein Mädchen an zu weinen; vielleicht ist es auf dem feuchten Boden ausgerutscht. Es ist Regenzeit.
Für das Wellblechdach ist das Wort „Dach“ eigentlich schon zu viel: Das Stück Wellblech lehnt schräg an der Wand einer Lehmhütte. Das ist die Behausung von Omar Ali Ahmad (Name geändert). Ein Bett, ein Hocker und Matten für Besucher – mehr paßt nicht hinein. Seit dem Sommer verbringt der 30jährige seine Tage und Nächte unter diesem Stück Blech. Gehen kann er nicht mehr: Sein rechtes Bein und sein rechter Arm sind gelähmt.
„Ich hatte Streit mit der Polizei“, erzählt Omar von jenem folgeschweren Abend im August. „Die Polizisten haben mich am Arm gepackt, und ich glaube, ich bin geschlagen worden. Aber ich kann mich nicht gut daran erinnern, was mir passiert ist.“ Früher hatte er mit seinem Gedächtnis keine Schwierigkeiten, sagt seine Frau. Und früher hat der Zimmermann seine Familie mit harter Arbeit ernährt. Jetzt versucht Omar Ali Ahmad mühsam, die Bruchstücke seiner Erinnerung zu seiner Geschichte zusammenzusetzen. Dabei ist sein Blick unsicher und gequält.
„Das Problem fing an, als wir zusammen ein Video gesehen haben“, sagt er, „ein Video von Seif Sharif Hamad.“ Seif Sharif Hamad war bei Tansanias Wahlen im Oktober 1995 der Kandidat der oppositionellen „Civic United Front“ (CUF) für die Präsidentschaft der Autonomieregierung von Sansibar. Nach gut 30jähriger Alleinherrschaft der sozialistischen „Partei der Revolution“ (CCM) kandidierten damals erstmals mehrere Parteien. Nach offiziellen Angaben siegte auf Sansibar der CCM- Kandidat Salmin Amour mit knapper Mehrheit. Doch die Opposition ist davon überzeugt, daß sie der eigentliche Gewinner war. Auch internationale Wahlbeobachter äußerten damals massive Zweifel.
Weil Omar Ali Ahmad mit seiner Geschichte nicht weiterkommt, springen Augenzeugen ein. Soldaten hätten im August eine CUF-Versammlung in dem Dorf Nungwi gestört und das Videogerät mitnehmen wollen. Omar Ali Ahmad wollte sie daran hindern, weil er das Gerät ausgeliehen hatte und sich verantwortlich fühlte. Warnschüsse fielen, Panik brach aus. Irgendwann lag der 30jährige reglos am Boden.
„Wir sind auf Hypothesen angewiesen“, sagt der Arzt, der ihn später in Sansibar-Stadt behandelte, „aber wegen der Gedächtnisstörungen vermuten wir, daß er einen harten Schlag auf den Kopf bekommen hat. Durch den Sturz könnte er sich weiter verletzt haben.“ Die Besserungschancen hält der Mediziner für gering: „Er wird immer Hilfe brauchen. Sein Leben wird nie wieder sein, wie es war.“
Der Ministerpräsident von Sansibar hält das für ausgeschlossen. „So etwas sind Lügen der Opposition“, sagt Mohamed Bilal. Er war früher Wissenschaftsminister und galt als kompetent. Jetzt hat er für das Gespräch mit der ausländischen Journalistin etliche Zuhörer aufgeboten, die seinen Ausführungen vernehmlich Beifall zollen. TV-Zanzibar dreht mit; am Abend werden Auszüge gesendet. Die Nachricht daran: Eine europäische Journalistin hat mit dem Chief Minister gesprochen. „Es gibt keine Folter“, sagt der. „Wenn doch gefoltert wird, sind das Einzelfälle. Oder es ist die CUF selbst, die die Regierung diskreditieren will.“
Das politische Leben in Sansibar ist seit Monaten an einem toten Punkt. Die CUF boykottiert das Parlament, weil sie Salmin Amour als Präsident nicht anerkennt. Westliche Geberländer haben Maßnahmen gegen die Korruption und ein Ende der politischen Blockade auf Sansibar als Bedingung für neue Entwicklungshilfe für Tansania eingefordert. Auf Sansibar also ist alles willkommen, was den Eindruck der Isolation nicht noch verstärkt. Außerdem ist das Interview mit dem Chief Minister natürlich ein Forum für Dementi. Zum Beispiel, was das Gerücht von baldigen Neuwahlen angeht. „Das wird von der Opposition seit Monaten verbreitet“, sagt Bilal dazu. „Es wird keine vorgezogenen Neuwahlen geben.“ Die Regierung ist auch nicht willens, mit der Opposition über einen Kompromiß – etwa eine Regierung der nationalen Einheit – zu verhandeln. Und auch die CUF scheint nicht bereit, von ihrer Maximalforderung abzurücken: dem Rücktritt des Präsidenten. Bilal wehrt sich gegen alle Vorwürfe der Opposition. Nur „unqualifizierte“ Mitarbeiter würden aus Regierungsstellen entlassen, nur „illegal“ gebaute Häuser zerstört.
Wirklich? In Mtoni, einem Teil von Sansibar-Stadt, ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Rinder und Esel weiden zwischen Trümmern, auf dem Schutt der Häuser sprießen die ersten Pflanzen. Zwei der Trümmerhaufen gehören Mohamed Juma Musa. Der auf der Nachbarinsel Pemba geborene Rechtsanwalt lebte bis zum April 1996 in Mtoni. „Sie sind an einem Samstag gekommen und haben uns gesagt: ,Morgen werden wir eure Häuser abreißen. Nehmt euren Besitz und geht‘“, erzählt der Vater von acht Kindern. Am nächsten Morgen sah er die Bulldozer anrücken, begleitet von Soldaten und Polizisten. Was die Familie tragen konnte, schleppte sie aus dem Haus. Dann wurde es abgerissen. Von den 320 Häusern in Mtoni seien 200 zerstört worden, sagt er.
Nach der Zerstörung seiner zwei Häuser lebte Muhamed Juma Musa mit seiner Frau und seinen acht Kindern vier Tage lang im Freien. Das jüngste Kind, gerade ein Jahr alt, bekam Lungenentzündung, denn es war Regenzeit. Bei der Aktion wurden nach CUF-Angaben 270 Familien obdachlos. Die meisten von ihnen kamen ursprünglich aus Pemba und seien gezwungenermaßen dorthin zurückgekehrt. Die Insel Pemba ist Hochburg der CUF, bei den Parlamentswahlen gewann die CCM hier nicht einen Sitz.
Muhamed Juma Musa blieb in Sansibar-Stadt. Seine zehnköpfige Familie haust jetzt in einem Zimmer, das Freunde ihnen freigeräumt haben. Doch die Häuser, für die Muhamed Juma Musa jahrelang gearbeitet hat, sind zerstört.
Selber schuld, meint Chief Minister Bilal. Die Bewohner von Mtoni hätten schließlich „illegal“ gebaut. Doch Muhamed Juma Musa hat eine Bauerlaubnis. Er legt sie auf den Tisch – datiert auf den 3. Juli 1989, mit dem Briefkopf der sansibarischen Regierung. Und er sucht einen zweiten Zettel hervor: die amtliche Registrierung seiner beiden Häuser im Jahr 1993.
Auch andere frühere Bewohner von Mtoni haben diese Papiere. Der Rechtsanwalt hat deshalb eine andere Erklärung für den Bulldozereinsatz: „Meine Häuser standen in der Nähe von einem Gebäude, das wir mit Fotos von Seif Sharif Hamad beklebt hatten. An einem Tag kam der Präsident von Sansibar da vorbei und sah viele Leute vor diesem Haus sitzen. Einer aus seiner Begleitung kam auf uns zu und sagte: ,Heute ist der letzte Tag, an dem Ihr hier lebt.‘ Am nächsten Tag kamen die Bulldozer.“ Nur einige Häuser blieben in Mtoni unversehrt. Vor den meisten wehen Wimpel oder Fahnen der herrschenden CCM.
Die scharfe Konfrontation zwischen CCM und CUF gehört zur Geschichte Sansibars, wenn auch unter anderem Namen. Im 19. Jahrhundert war Sansibar ein Zentrum des internationalen Sklavenhandels. Die Sultane von Oman verlegten ihren Herrschersitz hierher, arabische Händler kamen und hielten sich afrikanische Sklaven. Nachdem die arabische Elite während der britischen Kolonialzeit bestehen blieb, kam es kurz nach der Unabhängigkeit 1963 zu einer blutigen Revolution. Der Sultan wurde verjagt, Tausende Araber wurden getötet, die siegreiche Partei der Afrikaner schloß Sansibar mit dem Festlandgebiet Tanganyika zur Union von Tansania zusammen.
Die heutige Opposition CUF ist aus der früheren Partei der Araber hervorgegangen, die CCM aus der Partei der Afrikaner. Aber inzwischen geht es vor allem um die persönliche Rivalität zwischen den beiden Parteiführern, die sich an der alten Spaltung der Gesellschaft orientiert.
Die Regierung zementiert die Spaltung durch ihre Politik: Auf der Insel Pemba, im 19. Jahrhundert reicher Standort von Gewürznelkenplantagen und heute Oppositionshochburg, seien die Schikanen besonders schlimm, heißt es in Oppositionskreisen. „Alles Lüge“, sagt der Chief Minister. „Fahren Sie doch nach Pemba.“
Gesagt, getan. Es dauert ja nicht lange. Eine einzige asphaltierte Straße führt über Pemba. Schlagloch reiht sich an Schlagloch, der Verkehr fließt spärlich. Über Pemba, der sogenannten „Grünen Insel“, schwebt immer noch der Duft von Gewürznelken. Doch der Weltmarktpreis ist zusammengebrochen: 1981 brachte die Tonne Nelken auf dem Weltmarkt 9.500 Dollar, heute nicht einmal ein Zehntel.
Said Ali Rashid hat 4.000 Quadratmeter Land mit Bäumen von seinem Vater geerbt. Weil es regnet, sitzt er untätig vor der Lehmhütte, in der er während der Erntesaison mit seinen vier Pflückern lebt. Aus seinem löchrigen T-Shirt ragen spindeldürre Arme. Wieviel er pro Saison verdient? „Nichts“, sagt er. Die Pflücker müssen bezahlt, Trockenmatten und Lampen gekauft werden. Und für 50.000 Shilling hat er in diesem Jahr das Unkraut an den Stämmen roden lassen. Umgerechnet sind das 130 Mark – auf Pemba ein Vermögen.
„Früher konnte ich von der Ernte ein Jahr lang Kleidung und Essen für meine Familie bezahlen“, sagt Said Ali Rashid, „jetzt ist Hunger ein Problem.“ Wenn er das Camp am Ende der Saison verläßt, hat er keinen Shilling übrig, aber die Familie muß neun Monate bis zur nächsten Ernte überstehen. Wie er das macht? Schulterzucken.
Die Arbeitslosigkeit auf Pemba ist dramatisch. Nur zehn Prozent aller Einwohner hätten eine feste Stelle, schätzt ein Parlamentarier der CUF. Die Regierung ist praktisch der einzige Arbeitgeber. Deshalb sind ihre Jobs begehrt, auch wenn der monatliche Mindestlohn von 15.000 Shilling (umgerechnet knapp 40 Mark) nur für rund eine Woche reicht. Weil es kaum Alternativen gibt, verschärft jede Entlassung die politische Spannung.
Vor allem, wenn die Gründe so fadenscheinig sind wie bei Salmin Abdallah. 23 Jahre lang war er Lehrer, ehe er einen Brief von der Regierung erhielt. „Sie haben mir vorgeworfen, daß ich in einem Büro der CUF den Boden gewischt habe“, sagt er. „Deshalb wurde ich entlassen und bin bis heute arbeitslos.“ Für Salim Abdallah ist das besonders hart, weil vier seiner Geschwister ebenfalls ihren Job bei der Regierung verloren haben. Sie alle sind Mitglieder der CUF.
„Ich verschwende meine Zeit“, sagt ein 20jähriger, der gelangweilt am Rand der Hauptstraße sitzt. „Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Deshalb tue ich nichts.“ Der junge Mann wäre gerne Arzt geworden. Aber nach einem politischen Streik im Vorfeld der Wahl wurden auf Pemba Hunderte Schüler der Schule verwiesen, und er war einer von ihnen. „Dabei habe ich gar nicht gestreikt, ich war nur drei Tage lang krank.“ Daß er die CUF unterstütze, sei allerdings richtig. „Ich habe nur eine Zukunft, wenn ich eine Ausbildung bekomme“, sagt er. „Aber wir hier kriegen erst dann wieder eine Ausbildung, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen