■ Wie ich einmal bei einem Vorabendmagazin dabei war: Häßliche Männer, gefühlvolles Fleisch
Die „Wandelhalle“ im Hamburger Hauptbahnhof lädt den Flaneur nicht nur zum geselligen Essen und Gegessenwerden, nein, wüstbunt bedruckten Plastikfolien ist zu entnehmen, daß obendrein „genießen und abfahren“ möglich sei. Die Bahn kommt – jetzt auch noch mit Wortwitz. Und als des Alltags Lasten mal wieder überwogen, nahm ich Platz in der Wandelhalle. Genießen o.k., abfahren, hihi, mal sehen. Plötzlich wurde ein alter Mann mit Hornbrille direkt vor dem von mir okkupierten „Tisch 18“ im „Bistro“ mit Puder luftdicht verpackt, Frauen mit Drahtgehängen am Kopf wurschtelten mit Karten und Lichtern, und es war alles sehr durcheinander. So auch ich. Die Menschen um mich herum bestellten noch einen internationalen Qualitätswein und wußten längst, was nun auch mir erklärt wurde: Das beliebte N3- Vorabendmagazin „DAS – Live aus dem Hauptbahnhof“ stand kurz bevor.
Ich schrieb in mein Tagebuch, das vielleicht im nächsten Herbst bei Suhrkamp erscheint, „3. Tag, will wieder mehr schreiben, um mich rum hektische Betriebsamkeit. Beneide die Menschen, die noch wissen, wohin mit sich und woher die Energie zu beziehen ist.“ Das war das, doch was ist „DAS“? „DAS“ ist irgendeine drittprogrammübliche langweilige Abkürzung. Selbiges gilt auch für die Sendung selbst.
Super aber war, daß der Puder- Opa immer quer durch den Hauptbahnhof lief und dann mal am Geländer und dann wieder am Wurststand seine hölzernen Überleitungen verlas. Die Themen habe ich nicht alle behalten, genau erinnern kann ich mich noch an die griffige Metapher vom „Konjunkturrad“, das „noch nicht recht in Schwung“ sei oder nicht mehr oder nie mehr oder so. Und an den dialektischen Fallrückzieher, daß „immer weniger Arbeit immer mehr Arbeit bedeutet – und zwar für die Bundesanstalt für Arbeit“. Ein „Bruno Banani“ stellte daraufhin „progressive Underwear“ zur Schau. Progressive Underwear heißt, daß alles quillt und man mitten im Frühfrühling ohne Hosen, in Neonplastik allein gewandet, vor Menschen tritt und das toll findet. Früher hieß das anders. Und weil sich all das in Hamburg abspielte, durfte natürlich auch Domenica nicht fehlen, und die erzählte wieder von „Titten“ und „Behandlung wie auf dem Schlachthof“. Prostituierte seien „gefühlloses Fleisch“ in den Augen der Männer. Das war natürlich ein heißes Eisen.
Eine als „Sex-Revolutionärin“ angekündigte mittlere Dame erzählte dann Herrn Hornbrille von 5.000 Männern, „einer häßlicher als der andere“. „Von der Prostitution über die Uni zur Promotion“ habe sie es aber trotzdem geschafft – und hier ihr neues Buch. Von der Promotion zur Prostitution hat es kurz danach auch mal wieder Klaus Lage geschafft, und hier ist seine neue Platte.
Der nachgepuderte Hornbrillenmann stand dann hinter einer Säule und lamentierte über „Computermusik“. Wenn die dann mal echt singen müssen undsoweiter, ist ja klar. Und 5.000 Phrasen später (eine häßlicher als die andere) kam gefühlvolles Fleisch in Form von Klaus Lage und sang mit seinem Männerfreund (der wirklich „Beau Heart“ sich nannte!): „Du hast einen Freund in mir.“ Hey Junge, ruft Klaus, der alte Soulkönig, der hier genau hingehört, zwischen Ketchup und Feudel, der aber ab morgen schon „live und zu zweit“ unterwegs sein wird. Das war nicht zum Lachen.
Auflachen erst ließ mich folgende schillernde Rauschvorstellung (begünstigt durch wahllose Auswahl internationaler Weine während einer peinigendst langwierigen Reportage über den Orient-Expreß): 5.000 impotente, cordbebrillte ältere Herren (häßlicher noch als der andere!) in Bruno Banani-Unterhosen fahren auf dem Konjunkturrad zu gar nicht arbeitslosen Prostituierten in den Schlachthof, die ihnen während der „Zerstörung auf Raten“ (Domenica) ins gepuderte Ohr singen „Du hast einen Freund in mir“. Klaus Lage und die Gema würden das sehr genießen und darauf abfahren.
Den Rohentwurf meines Tagebuchs schenkte ich hernach dem Personal des Wurststandes, der der Welt offenkundiges Motto zum Firmennamen erkor: „Alles wurscht“. Benjamin v. Stuckrad-Barre
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