: Drinnen und Draußen
Die Neuerfindung der Welt im Spiel. Ein Freiburger Film-Forum gab Einblicke in die Sehweisen des ethnographischen Films ■ Von Andreas Seltzer
Martial hat einen sehr interessanten Begriff von literarischer Schönheit: Das Werk darf nichts Wirkliches enthalten, keinerlei Beobachtung an der Welt oder den Geistern, nichts als völlig imaginäre Kombinationen...“
„Martial“, über den hier der Psychiater Pierre Janet schreibt, ist ein langjähriger Patient von ihm und der Deckname für den ebenso reichen wie neurotischen Schriftsteller Raymond Roussel (1877 bis 1933), dessen Romane großen Einfluß auf die Autoren des nouveau roman hatten, die mit ihren ausgeklügelten Textkombinationen als Vorläufer des Lettrismus und der konkreten Poesie gelten. Roussel war ein Reisender, der begierig in immer neue Länder fuhr, aber dann, dort angekommen, es bisweilen vorzog, in der Luxuskabine seines Schiffes oder in der Hotelsuite zu bleiben, weil der Augenschein des Fremden ihm womöglich die mit den Ländern und Orten phantasierten Bilder entkräftet hätte.
Er gab Geld für ethnographische Expeditionen, etwa jene, die zwischen 1931 und 1933 von Dakar nach Dschibuti führte und an der der junge Michel Leiris, Ethnologe und Kunstschriftsteller, teilnahm. Aber selbst dabeizusein, das hätte seine vom Opium geschwächte Konstitution kaum verkraftet, und außerdem wäre es für ihn, dessen Werk, wie Jean Cocteau bemerkte, „keinen einzigen Fettfleck aufweist“, einfach dort zu unhygienisch gewesen.
„Dies Werk“, schrieb Leiris, „besitzt für uns doppeltes Interesse: ,Impressions d'Afrique‘ etwa zeigt uns ein Afrika, wie wir es uns als weiße Kinder in unserer Phantasie vorstellen mochten, und andererseits ein Europa der Kuriositäten und verrückten Erfindungen, wie man es vielleicht in den Köpfen derjenigen findet, die wir verächtlich als Primitive bezeichnen.“
Diese Verachtung galt freilich, als Leiris 1930 diesen Text veröffentlichte, nicht für die intellektuelle Avantgarde Europas. Bücher wie Carl Einsteins „Die Negerplastik“ (1915), Paul Carus „The Art of primitive Men“ (1910) oder Wilhelm Haussensteins „Barbaren und Klassiker“ (1923) waren erschienen, das Musee de L'homme wirkte mit seinen ethnographischen Sammlungen als Katalysator für den Kubismus. Die ersten ethnographischen Filme waren bekannt: etwa die des britischen Anthropologen A.C. Haddon, der 1898 Aufnahmen während seiner Expedition zu den Torres Strait Islands machte, die des amerikanischen Fotografen E.M. Curtis, der bei den Kwakiutls-Indianern in British-Columbia drehte, und schließlich die Filme von Robert Flaherty, der mit „Nanook of the North“ (1919/20) die Grundlagen dessen legte, was erst viele Jahre später von Soziologen und Ethnologen als „teilnehmende Beobachtung“ und „Feedback“ zur Methodik entwickelt wurde.
Mit Jean Rouch, 1917 geboren, wurde das Medium des ethnographischen Films, der geduldig und genau beobachteten Feldstudie, erst erwachsen. „Film ist das einzige Mittel“, so schreibt er, „den Anderen zu zeigen, wie ich ihn sehe. Mit anderen Worten: Mein wichtigstes Publikum ist (nach der lustvollen Erfahrung der Ciné- Trance beim Filmen und Schneiden) der Andere, den ich filme.“
Jean Rouch war der gute Geist des ethnographischen Film-Forums, das vom 6. bis zum 11.Mai in Freiburg stattfand. Ohne seine Feldforschungen wären viele der Arbeiten, die dort gezeigt wurden, nicht möglich gewesen. Luc de Heusch stellte ihn in seinem Film „Auf den Spuren des bleichen Fuchses; Nachforschungen im Land der Dogon 1931–1983“ (Frankreich/Belgien 1984) als präzisen Vermittler und Entzifferer des Fremden vor. De Heusch, zehn Jahre jünger als Rouch, war die Hommage des Film-Forums gewidmet. Neben seinen ethnographischen Filmen aus Mali, Zaire, Ruanda und den Soziographien geschlossener Gesellschaften, wie etwa der Beobachtung der Dorfgemeinschaft im heimatlichen Belgien, die sich mit Liebe ihrem Amateurtheater widmet, machte er Kinderfilme und Dokumentationen über bildende Künstler. Sein Interesse am Spiel mit Bildern zeigt sich besonders in „Les Gestes du Repas“ (Belgien 1958), einer wunderbaren Studie über das Eßverhalten seiner Landsleute.
In dieser Arbeit, die eine ganze Reihe über Gesten des Menschen einleiten sollte, war etwas konzentriert, das manch anderen Filmen des Forums fehlte: Witz, Leichtigkeit und die erkennbare Freude an der Erkenntnis. Etliches, was „Looking for the Man of Aran“ (Großbritannien, 1995) von Sebastian Eschenbach, einer Recherche über die Veränderungen, die Flahertys Film im Leben der Inselbewohner bewirkt hat, oder die „Balkan Poträts“ (Bulgarien, 1995), die die Bewohner eines Dorfes im Südwesten von Bulgarien mit Hilfe von Videokameras und mit Anleitung des Ethnologen Asen Balikci herstellten – diese Filme wirkten wie die Pflichtübungen für die Seminare des akademischen Fachs Visuelle Anthropologie.
Es gab Genrespezialisten, die mit der Sicherheit und TV-Verwendbarkeit ihres Themas operierten, die Filme „Im Spiegel des Schamanen“ (Deutschland, 1989) von Ingrid Kummels und Manfred Schäfer oder „Ritual der schwarzen Sonne“ (Deutschland, 1997), mit dem Gerd Roscher die Reise von Antonin Artaud zu den Tarahumara-Indianern vor 60 Jahren rekonstruiert. Auch „A skirt full of butterflies“ (USA, 1993) von Ellen Osborne und Maureen Gosling, gehörte dazu: eine Impression über die starken und geschäftstüchtigen Frauen jenes Zapoteken-Volksstamms, der am Isthmus von Tehuantepec/Mexico lebt, und hier als Sinnbilder des Selbstbewußtseins verklärt werden.
Was vollkommen fehlte, und das fiel besonders bei den Langzeitstudien Ian Dunlops „Yirrkala Projekt“ auf, an denen er seit 1970 arbeitet und die sich der Beobachtung einer Aborigines-Familie im Nordosten Australiens widmet – das ist die Reflexion des Beobachters über die eigene Perspektive und die Änderungen, die sie im Laufe der Zeit erfährt. Dort, wo auch mit der Rezeption des Publikums experimentiert wird, da versagen die Mittel, weil der Blick auf die Leinwand, der genau sein will, zur Flüchtigkeit gezwungen wird. Denn das kann ja die ethnographischen Filmbilder von den gewohnten Spielfilm- und Fernsehbildern mit ihren Schnittfolgen im Sekundentakt auszeichnen: daß sie das Gezeigte nicht gleich wieder auswischen, sondern eine Weile stehen lassen. So ist der Gestus des Wanderns ihnen angemessen. Viele der Filme dort besaßen ihn: „Eine lange Reise zu Guadalupe“ (Mexiko, 1996) von Juan Francisco Urrusti, die Dokumentation einer Pilgerreise; „Teshinada – Osterfeiern des Tarahumaras“ (Mexiko, 1979) von Nicolas Echevarria und ganz besonders: „Poetas Campesinos“ (Mexiko, 1980) desselben Regisseurs. Ein Film über einen Wanderzirkus und eine Musikgruppe, die im Süden des Bundesstaats Puebla auftraten.
Dieser Film ist ein Wunder: Mit seinen klaren Farben, die in der Nachmittagssonne einen samtenen Ton haben, und mit den Aufnahmen der Gerätschaften, der balancierten Artisten, des dichtenden Clowns und den begeisterten Zuschauern wirkt er, als sei die Welt gerade neu im Spiel erschaffen worden. Mit einem Mal ist vor diesen Bildern jede Bildermüdigkeit verflogen, und man atmet auf: endlich – was für ein Glück, in diese Gesichter zu sehen, die Kostüme zu bewundern und über die Verrenkungen der Clowns zu lachen.
Die stärkste analytische Kraft zeigte eine Dokumentation: „Die große Poststraße“ (Niederlande, 1996) von Bernie Ijdies, der ein Porträt des indonesischen Dichters Pramaduja Ananta Toer, der unter Hausarrest lebt, mit dem Tagebuchfilm einer Reise über die große Poststraße verbindet, die ein Symbol des holländischen Kolonialismus ist und über die Toer einen Essay schreibt.
Im Laufe der Fahrt, die immer wieder von Gesprächssequenzen mit dem Dichter unterbrochen wird, scheinen sich die Bilder mit der Atmosphäre der allgegenwärtigen Repression aufzuladen und das Blickfeld mit paranoider Angst zu verdunkeln.
So hat uns dies Film-Forum das Andere in vielen Facetten meist ohne falsche Vertrautheit nahegebracht, und wir kehren, wie von einer gelungenen Reise, ein bißchen klüger in unseren Alltag zurück.
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