■ Schlagloch: Stürmt die Praxis Bülowbogen! Von Nadja Klinger
„Ich glaube, Arbeitslosen bleibt nichts anderes übrig, als sich selber zum Kunstwerk zu erklären, damit sie überhaupt noch irgendeine Funktion haben“
Christoph Schlingensief,
taz vom 4.9.
Der erste Arbeitslose in meinem Leben war Charlie. Das heißt, zunächst war er noch nicht arbeitslos, sondern Fotograf in der Redaktion der FDJ-Zeitung. Wenn man mit ihm zu offiziellen Terminen fuhr, schob er sich vor Beginn einen dunkelblauen Kragen in den Halsausschnitt seines Pullovers. Er muß ungefähr 60 gewesen sein, als er als „das Mitglied mit dem kleinsten FDJ-Hemd“ in die Annalen der Jugendorganisation einging.
Charlie war im Sommer 1991 der harmloseste Fall auf der langen und gleichzeitig ersten Entlassungsliste der Redaktion. Er ging in den Vorruhestand, andere, viel jüngere Redakteure traf es bedeutend schwerer. Zwar hatten alle Kollegen mit dem Problem Arbeitslosigkeit gerechnet, gleichzeitig aber gehofft, in der neuen Gesellschaft zu lernen, wie damit umzugehen ist. Doch da war keine Möglichkeit erkennbar. So protestierten wir aus lauter Hilflosigkeit, obwohl wir längst wußten, daß unsere Zeitung ihre zahllosen Mitarbeiter unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht halten konnte. Wir hielten es nicht für angemessen, einen Kollegen nach über 30 Jahren so zu verabschieden. Viele schämten sich grundlos. Schließlich nahm unser Aufstand die Form eines gemeinsamen Wochenendausflugs an; die Redaktion fuhr Kahn, grillte, soff und vergaß Charlie danach schnell.
So war und ist es üblich: Auch wir Neubundesbürger machten die Erfahrung, wie Entlassene „verschwinden“. Es gab zahlreiche Versuche, das zu verhindern: Telefonate, private Einladungen. Doch sogar jene ehemaligen Kollegen, die noch wochenlang mit uns im Großraum herumsaßen, waren bald nicht mehr da, auch wenn sie anwesend waren. Sie hatten ständig „was vor“, wenn nicht tatsächlich, so doch gedanklich. Sie mußten etwas „erledigen“, sich „kümmern“ und waren abends völlig „geschafft“. Sie befanden sich in einer brutalen Abhängigkeit vom Arbeitsamt, das ihnen zukünftig Arbeit, im Moment wenigstens die Arbeitslosigkeit ermöglichen sollte. Der Bewilligungsbescheid öffnete ihnen Türen, verbilligte ihnen das Kino und die Bahnfahrt. Ihren Namen ersetzte die Stammnummer, deren Ziffernanzahl wie Wolken die Hoffnungen verdunkelte. Unsere ehemaligen Kollegen führten fortan ein anderes Leben. Und was wir Ostler lernen sollten, war: wie viele sie auch waren, sie verschwanden in dem Leben derer, die Arbeit hatten. Sie existierten nicht als Problem, weil sie die Gemüter nicht erregten, man sprach nicht von ihnen, sie waren weder Tagesthema, noch taugten sie für einen Ausblick. Dennoch verlief zwischen unseren ehemaligen Kollegen und uns die Grenze: der Staat hatte ihr Leben auf eine Art institutionalisiert, während er sich an unserem noch nicht vergriffen hatte. So hatten wir zwar persönlichen, doch keinerlei offiziellen Umgang miteinander.
„Sechs Millionen Arbeitslose hält dieses Land nicht aus“, sagt der Sozialethiker Friedrich Hengsbach. Doch selbst die Arbeitsmarktforscher, die der Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen Zahlen verarbreichen, zerbröseln das möglicherweise aufkommende schlechte Gewissen auf die Monate eines Jahres, in denen es nach ihren Erkenntnissen immer auf und ab geht. Hengsbach sollte sich beruhigen: Unser Land tut sich überhaupt nicht schwer. So laufen auch Kunststücke ins Leere. „Die Idee war, für sechs Millionen Arbeitslose etwas zu machen, mal so zu leben wie die, von Gerüchten leben, unsichtbar sein“, sagt Christoph Schlingensief über seine Inszenierung „Schlacht um Europa“. Doch wo nichts ist, da gibt es für die Kunst auch nichts zu überhöhen.
Kürzlich produzierte Schlingensief für Kanal 4/RTL in der Kantine der Berliner Volksbühne seine Fernsehshow „Talk 2000“. Verkündete Zielquote: sechs Millionen Arbeitslose. Der Talkmaster stellte seinen Gästen Ingrid Steeger und Konrad Kujau einen Mann mit dem Gesicht von Heiner Müller vor, erklärte ihnen, der sei ein berühmter Dramatiker und der Intendant des Berliner Ensembles. „Erzählen Sie doch bitte was aus Ihrem interessanten Leben, aus Ihrem Beruf“, bat die ahnungslose Ingrid Steeger den falschen Müller. Der antwortete: „Ick habe keenen Beruf.“ Steeger fragte: „Wie? Leben Sie von Sozialhilfe?“ Müller: „Ja.“ Steeger: „Was sagen Ihre Eltern dazu?“ Müller: „Meene Mutter nichts, meen Stiefvater, weß ick nich, wat mit dem is.“
Irgendwann, das Publikum hatte sich genug amüsiert, schickte Schlingensief Heiner Müller Getränke holen. Ingrid Steeger bekam nach und nach glasigere Augen, und Schlingensief wollte sie wohl heulen sehen. Bekanntlich war er dabei, die Realität zu inszenieren. Und weil er die nicht bedeutungsloser darstellen kann, als sie bereits ist, mußte er auch noch all dem die Wirkung nehmen, was noch Wirkung hat: dem privaten Schicksal, der Betroffenheit, den Tränen. So entschuldigte er sich, bis jemand brüllte, es würde langweilig werden. „Dann geh doch!“ schrie ein anderer. „Anspruchsnase!“ – „Konsumdenker!“ Ingrid Steeger verzieh nicht, Schlingensief hielt sie fest, bis sie sich losriß und aus der Kantine rannte. Kujau begann, auf Pappe einen Miró zu fälschen, und Schlingensief brüllte ins Publikum, wir sollten unsere Talkshow alleine machen. Woraufhin wir die Bühne stürmten.
„Auf und ab, wahr und falsch, böse und gut schwimmen durcheinander“, schreibt die Berliner Zeitung über Inszenierungen wie die von Christoph Schlingensief. „Wer das nicht versteht, was eine menschliche Reaktion ist, muß wohl die Polizei holen.“ Wieso, frage ich im Namen des Publikums, sollten wir dieses Durcheinander im Theater nicht verstehen, wo wir doch selbst nur überleben, indem wir die Fronten verwischen? Schlingensief teilt Zärtlichkeiten wie Schläge aus, weil beides – ohne Bedeutung – keinen Unterschied macht. So kam es auch, daß ich mich mit ihm amüsierte, mich plötzlich jedoch mies fühlte. Denn in der Kantine der Volksbühne ging die Tür auf, und Charlie kam herein. Er blieb im Türrahmen stehen und sah sich suchend um. Niemand kümmerte sich, ja, niemand bemerkte ihn, bis auf einen Scheinwerfer, der sich auf ihn warf. Ich sprang von meinem Stuhl hoch und auf Charlie zu: „Was machst du denn hier?“ Zweifelsohne erkannte er mich, doch das schien ihm nicht zu passen. „Wie ist es dir ergangen“, fragte ich, „was machst du den ganzen Tag?“ Da schoß Christoph Schlingensief auf uns zu: „Na, da ist er ja endlich!“ Charlie lächelte ins Licht und zischte mir zu: „Ich bin's nich, ick bin det Jünter-Pfitzmann-Double.“
Arbeitslose gibt es in meiner Wirklichkeit nicht. Sie werden, kaum sind sie „verschwunden“, inszeniert. Charlie doubelt Pfitzmann, die Stammnummer doubelt den Entlassenen. Diese Kunst findet auf der Bühne des Lebens statt, jeder versteht sich in ihr. Vier von fünf Testpersonen, denen Charlie kurz nach seiner Entlassung beim Casting vorgestellt wurde, haben sofort „Praxis Bülowbogen!“ gerufen. Und waren begeistert! Sagt Charlie.
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