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■ Silvester 2Never can say goodbye oder Wie man anderswo ins Rutschen kommt

Manchmal fragt man sich, ob Westdeutschland nun seltsam ist oder normal und man selber und Berlin nur ein bißchen verschroben. In Westdeutschland also, zum Beispiel in Bad Segeberg, kann man vom Fußgängerzonenpflaster essen, was aber kaum jemand macht. In Westdeutschland lesen alle Eltern die Hör zu, und „zu Hause“ bringen die Eltern das schmutzige Geschirr in Töpfen in den Keller, weil sie nur einmal am Tag abwaschen und die Spülmaschine aus Ökogründen nie benutzen (was meine Idee war). Ihre Fahrräder haben drei Schlösser, und die Haustür hat in jedem Jahr neue Riegel, weil sie eben Flüchtlinge sind. Silvester werden die Eltern wieder mit B.s feiern, obgleich sie B.s nicht ausstehen können. B.s sind abstoßend. Herr B. ist ein kleiner, feister und dummer Angeber, Anfang sechzig, schwitzt viel, wählt vermutlich DVU, findet Kiffer schlimmer als Vergewaltiger und macht betrunken immer gern schweinische Witze. Seine ebenfalls feiste Frau haucht dann „Ach Klaus!“.

Die Eltern lernten B.s in irgendwelchen Flüchtlingszusammenhängen kennen, trafen sie vor 25 Jahren beim Kindervogelschießen wieder und feiern mit ihnen seitdem Silvester. Weil sie mental nicht in der Lage sind, das sein zu lassen. Die ersten Jahre feierten sie immer wechselseitig – mal bei B.s, mal bei meinen Eltern. Man will einander ja nichts schuldig bleiben. Vor zehn Jahren oder so versuchten meine Eltern mal, B.s abzuweisen. Ein paar Tage vor der Feier sagten sie, sie könnten diesmal nicht kommen, sie hätten Angst um ihr Haus, daß eine Rakete durch den Schornstein käme, und meiner Mutter ginge es auch nicht so. Jedenfalls müßten sie zu Haus bleiben. „Dann kommen wir eben zu euch“, so meine Mutter, so Herr B. So ging es dann weiter, jedes Jahr. Und jedes Jahr wieder zu Weihnachten erzählen die Eltern von neuen verletzenden Gemeinheiten, die sich B.s geleistet hätten, und jedes Jahr wieder fürchten sie sich vor dem Silvesterfest, und jedes Jahr wieder feiern sie zusammen im orange gehaltenen kleinen „Partykeller“ mit Holzersatztapeten.

So geht es zu, Silvester bei den Nachkriegseltern in Westdeutschland, und wenn man sagt, das sei doch scheiße, reißt einem die kleine Cousine ein Haar aus, weil man das macht, wenn jemand „das böse Wort mit Sch“ sagt. Und wenn Jenny schlafen geht, faßt sie jedem zuvor mit ihrer Hand an den Kopf, um Traumstaub zu verschenken, damit man schöne Träume hat. Manchmal wacht sie später noch auf und kommt schlaftrunken im Schlafanzug wieder in die Wohnstube, weil sie jemanden vergessen hat. Detlef Kuhlbrodt

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