■ Schlagloch
: Der deutsche Weg nach innen Von Klaus Kreimeier

„Aus dem Materialismus stammt der Kapitalismus, stammt der Sozialismus und stammt der Nationalsozialismus. Deshalb wollen wir heute die Rückkehr zum christlichen Denken.“

Als Konrad Adenauer Anfang 1947 auf einer Wahlkundgebung in Bielefeld diese Sätze stanzte, blieb vieles unklar. Semantische Unschärfen kennzeichnen ja bis heute den Verlauf von Wahlkundgebungen. Ohnehin hatte zwei Jahre nach Kriegsende des unpräzise Denken Hochkonjunktur; wolkige Utopien und vage politische Sehnsüchte waberten um die Ruinen. Jedenfalls – von Adenauers These, der Kapitalismus entstamme demselben Höllenpfuhl wie Sozialismus und Nationalsozialismus, nahmen er und seine CDU bald in aller Form Abschied; die Opposition folgte etwas später.

Was aber verstand Adenauer damals unter „Materialismus“? Meinte er damit die Theorien des Vormärz-Philosophen Feuerbach, der in seinem Kampf gegen den Idealisten Hegel eine Art anthropologisch fundierte materialistische Naturanschauung ausgearbeitet hatte? Wetterte er gegen den dialektischen Materialismus von Marx & Engels (der nun freilich kaum für den Kapitalismus verantwortlich zu machen war)? Oder bezog er sich gar auf Demokrit, der als einer der ersten im alten Griechenland gelehrt hatte, daß das Universum nicht von Göttern, sondern von lauter Materieteilchen besiedelt sei?

Adenauer war ein gebildeter Mann, aber seine Wahlrede von 1947 war nicht gerade ein Höhenflug in die Philosophiegeschichte. Materialismus – das war und ist das Böse schlechthin; es ist so böse, daß man ihm ohne weitere Prüfung alle Übel dieser Welt zuschreiben kann. Schließlich versteht auch jeder philosophisch nicht weiter vorgebildete Geist, der einem Freßsack beim hemmungslosen Prassen oder einem Großaktionär beim Errechnen seiner Dividende über die Schulter sieht, was ein Materialist sei. War somit dem populistischen Jonglieren mit einem umgangssprachlich vulgarisierten Begriff eine (Adenauer bekanntlich eigene) demagogische Intelligenz nicht abzusprechen, so ermangelte andererseits der Appell an das „christliche Denken“ jeder Originalität. Irgendwie hatten die in der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen den Eindruck, daß durch das Volk der Hitler-Mitläufer ein Ruck zu gehen habe, und weil draußen, in der von den Deutschen zerstörten Welt, noch nicht viel zu holen war, dekretierten sie, dieser Ruck müsse gleichsam ein Ruck nach innen sein. Der Weg nach innen ist in Deutschland traditionell ein Königsweg, wenn die äußeren Probleme überhandnehmen – und vor allem: wenn sie dem Intellekt unlösbare Rätsel aufzuerlegen scheinen. Und er war immer der letzte, aber überaus zuverlässige Fluchtweg, wenn die Expeditionen in die reale Welt in der Bredouille oder in der Katastrophe steckengeblieben waren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bot außer dem christlichen Denken der deutsche Idealismus solche Fluchtwege an. Ihm wurde irrigerweise zugute gehalten, daß er an allem Vorgefallenen unschuldig sei. „Nein, keine Menschen mehr! Bücher, die großen Geister – die enttäuschten nicht, die lügen nicht, die machen uns nicht zum Narren!“ ruft Erich Ponto als ergrauter Professor in Harald Brauns Spielfilm „Zwischen gestern und morgen“ (1947) aus; fast alle seine Studenten waren „gefallen, totgeprügelt, vergast oder was weiß ich...“ Was kann er schon wissen wollen, der alte Schulmeister – bloß keine Menschen mehr, keine Enttäuschungen mehr, marsch, marsch zurück zu Hölderlin, Goethe und Schiller!

An diese alten Geschichten mußte ich denken, als ich mich in den vergangenen besinnlichen Tagen teils durchs Internet, teils durch deutsche Wochenzeitungen durcharbeitete und zum Beispiel auf die denkwürdige „Klassikerdebatte“ stieß, die Ekkehart Krippendorff, FU-Professor für Politologie, im Freitag entfesselt hatte. Auf einer FU-Website hatte ich zuvor schon einen markanten Satz von ihm entdeckt: „Gerade weil die deutsche Universität gegenwärtig von ihrer materiellen Basis her in Frage gestellt wird, müssen wir von ihrer Idee sprechen.“ Dann folgten 37 Kilobyte durchaus sympathischer Betrachtungen über die Geschichte und den Sinn der Universität – doch alles litt erheblich unter der bereits im einleitenden Satz bekundeten Anstrenung, die deutsche Realität erneut im Himmel der schönen Ideen, wo nicht im Wolkenkuckucksheim zu verankern, und die deutsche Ideologie von den Füßen, auf die sie von Marx & Engels befördert worden war, mit aller Gewalt wieder auf den Kopf zu stellen. Nachdem ich über solche Loopings eines ehemaligen Vordenkers der neuen Linken genug gestaunt hatte, wunderte ich mich dann gar nicht mehr, als ich im Freitag Krippendorffs dringende Empfehlung las, den Beschwernissen der Globalisierung und ihren intellektuellen Zumutungen durch eine scharfe Kehrtwendung zu Goethe und Schiller auszuweichen.

In Horst Mahlers Homepage mußte ich dann gar nicht erst hineinklicken, die hatte schon die Weihnachtsausgabe von jungle world auszugsweise veröffentlicht. Nicht nur, daß uns der ehemalige Anwalt und Protagonist der RAF, ganz im Sinn des alten Adenauer, über die Verwerflichkeit des Atheismus belehrt – er bemüht sich darüber hinaus, Arm in Arm mit Hegel, die christliche Dreifaltigkeit „aus der endlichen Vorstellung auf den Begriff der Unendlichkeit zu bringen“ und so, ohne alle Bombenbastelei, in einem Aufwasch den theologischen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum für „überwunden“ zu erklären. Die Redakteure von jungle world geben sich redlich Mühe, Mahler darob zum verkappten Antisemiten zu stempeln – mir indessen genügte es schon, einen ehemals brillanten Anwalt der Linken, der zwischenzeitlich mit der Knarre herumlief, einen weihnachtlichen Salto spirituale in die Sphären mißverstandener theologischer Erleuchtung vollziehen zu sehen, der nicht einmal zum Pfingstfest salonfähig wäre.

Gegen eine tägliche Dosis Goethe & Schiller ist schon der Sprachpflege wegen nichts einzuwenden; ebensowenig gegen eine gelegentliche Rückbesinnung auf die christlichen Grundlagen unserer Kultur. Daß aber ehemals linker Missionarismus heute vielfach in den abgeschmacktesten neoidealistischen, wenn nicht gar militant obskurantistischen Missionarismus um- (und dann: um sich) schlägt, ist nur dadurch erklärbar, daß wir uns, mit Brecht gesprochen, wahrlich in finsteren Zeiten bewegen, die mitnichten allein der Globalisierungsraserei und dem Standortwahnsinn, sondern auch dem verkorksten Sendungsbewußtsein deutscher Intellektueller, also den Missionaren um uns herum und ihren rasanten Erleuchtungen geschuldet sind. Gegen die alten und neuen Adenauer-Adepten, gegen Neoklassizismus und den allermodernsten Uraltidealismus, gegen intellektuelles Weihnachtsgebimmel und Pfingstochsen-Gedröhn sei ein Schuß Materialismus empfohlen – und eine Neuauflage der „Deutschen Ideologie“.