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Verzweifelte Suche nach Bedeutung

Schuld, Liebe, Vergänglichkeit: In Javier Marias neuem Roman geht es um die weiträumigen Themen des Lebens  ■ Von Diemut Roether

Javier Marias zu lesen ist, wie bei den Dreharbeiten eines Films zuzuschauen: Immer wieder wird die Handlung unterbrochen, und der Regisseur erklärt den Schauspielern am Set, wie er sich die Szene vorstellt: „Die Mutter ist dir in deinen Armen abgekratzt, und du hast ihn ihr nicht einmal reingesteckt! – Das will ich sehen, Mann!“ Auch Marias unterbricht die – eher dürftige – Handlung seiner Romane ständig. Allerdings gibt er keine Regieanweisungen oder Erklärungen ab, sondern er läßt sich beim Denken zuschauen. Wie seine Figur Victor Francés ist er einer, dessen Hirn „fast nie rastet, sondern ständig grübelt und tüftelt“. Was ihn umtreibt, sind Beobachtungen, Erinnerungen, das Verhalten der Menschen und die großen Themen des Lebens: Schuld und Betrug, Liebe und Vergänglichkeit. In seinem neuen Buch „Morgen in der Schlacht denk an mich“ geht es vor allem um Vorahnungen und Ängste. Um fixe Ideen und den Wunsch, Gewißheit zu haben. Victor Francés, der Erzähler, bezeichnet sich als einen „Niemand“, denn er ist ein Ghostwriter. Er leiht anderen Menschen seine Ideen und seine Sprache, die diese dann als ihre eigenen ausgeben. Er wird dafür bezahlt, daß er hinter seiner Arbeit verschwindet. Eines Nachts erlebt Victor das Unvorstellbare: Eine Frau, die er kaum kennt, stirbt plötzlich und unerwartet in seinen Armen. Warum, bleibt unklar. Fest steht nur, daß ihr nicht zu helfen war. Marta Téllez war jung, verheiratet, Mutter eines Sohnes. Eine Dienstreise ihres Mannes nutzte sie, um ihren flüchtigen Bekannten zu einem Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Eine Einladung mit eindeutig zweideutigem Charakter, auch wenn der Erzähler später sagen wird: „Ich habe es nicht darauf angelegt, ich habe es nicht gewollt.“

Eine absurde Situation: Zum Ehebruch ist es nicht gekommen, weil Marta sich plötzlich unwohl fühlte, und der Mann, der nur die Chance einer kurzen Affäre witterte, wird Zeuge ihres Todes. Was tun? Den Ehemann, dessen Hotelanschrift neben dem Telefon liegt, kann der Rivale kaum verständigen, andere Bekannte oder Verwandte kennt er nicht. Wenn er die Nachbarn benachrichtigt, wird er sich unangenehmen Fragen stellen müssen. Dazu kommt die Sorge um den knapp zweijährigen Sohn. Victor verläßt die Wohnung wie ein Verbrecher: heimlich und unbemerkt. Doch alle seine Spuren kann er unmöglich beseitigen.

Der „schreckliche, lächerliche Tod“ knüpft ein Band zwischen Victor Francés und der Toten, stärker als jede Verbindung mit der lebenden Marta Téllez je hätte sein können. Sie wird zu einem Geist, der ihn heimsucht, ein Nachtmahr, der ihn in seinen Grübeleien verfolgt. Es gelingt ihm, die Familie der Toten kennenzulernen und Martas Spuren zu verfolgen. Doch er erfährt vor allem das, was andere vor ihr geheimhielten.

Marias greift auf bewährte Elemente aus seinen früheren Büchern zurück: Shakespeare-Zitate durchziehen auch diesen Roman, der Geist des englischen Dichters scheint den spanischen Autor zu verfolgen. Erinnerungen des Erzählers klingen an, einzelne Motive werden abgewandelt, kehren wie in einem symphonischen Musikstück in Variationen immer wieder, und nach und nach ordnen sich die zunächst wirren Assoziationen zu einer nachvollziehbaren Gedankenkette.

Wie schon in seinem Erfolgsroman „Mein Herz so weiß“, der im Sommer 1996 dank Reich-Ranicki und Co zum Überraschungserfolg der Saison wurde, begibt sich Marias in eine Schaltzentrale der Macht, diesmal den spanischen Königshof. Er zeichnet die ironische Skizze eines Monarchen, der heimlich flippert und davon träumt, eine tragische Figur von shakespeareschem Format zu sein. Die nötigen bedeutenden Worte soll ihm der Redenschreiber Victor Francés in den Mund legen.

Die Stärke dieses detailversessenen Autors sind die feinen Beobachtungen: der leutselige, etwas einfach strukturierte König, der verzweifelt nach den richtigen Worten sucht, um seinen Satz zu beenden, aber mit keiner der Varianten, die ihm sein Hofstaat devot offeriert, zufrieden ist. Die Peinlichkeit einer Laufmasche, die während der Audienz bei Hofe immer größer und breiter wird, was die Trägerin souverän zu überspielen versucht. Und der alte Herr, der sich noch immer im Glanz seiner einst guten Beziehungen zum Königshaus sonnt, dessen Leben aber inzwischen so leer ist, daß ihn das Rätsel eines anonym zugesandten Blumenbuketts mehrere Tage beschäftigt.

Wieder einmal erweist sich Javier Marias eher als großer Essayist denn als begnadeter Romancier. Aber leichter als in seinem letzten Roman ordnet sich das verwirrende Puzzle am Ende zu einem stimmigen Bild. Immer schaut dieser Metaromancier sich und seinen Figuren über die Schulter und entfernt sich von der Handlung, indem er sie reflektiert. Nebenbei entwickelt er seine Theorie des Erzählens: Ob Victor erzählt, „um eine Schuld zu begleichen“, oder ob der Monarch seinem Hofstaat in einer großzügigen Geste eine Geschichte schenkt, für alle gilt: „Geschichten gehören nicht allein dem, der sie erlebt oder erfindet, sobald sie erzählt sind, gehören sie jedermann, werden von Mund zu Ohr weitergegeben und entstellt und verdreht, nichts wird zweimal auf dieselbe Art oder mit denselben Worten erzählt, nicht einmal, wenn der, der etwas zum zweiten Mal erzählt, dieselbe Person ist, nicht einmal, wenn der Erzähler jedesmal ein und derselbe ist.“

In der Kurzzusammenfassung von Victors Freund Ruibérriz wird seine Geschichte zu einem grausamen Witz: „Die Tante ist abgekratzt? Und du hast ihn ihr nicht einmal reingesteckt, so eine Scheiße.“ Javier Marias braucht für seinen Bericht etwas länger: Über 40 Seiten zieht sich die Sterbeszene hin, jeder Gedanke, der Victor durch den Kopf huscht, jede noch so kleine Bewegung werden mitgeteilt, als wolle Javier Marias seine Leser quälen. Und doch bleibt auch diese Szene seltsam distanziert und anonym. Wer Action sucht oder schnell wissen will, wie es weitergeht, kann an Marias verzweifeln. Aber es gibt ja auch Leute, die gern bei Dreharbeiten zuschauen.

Javier Marias: „Morgen in der Schlacht denk an mich“. Roman. Aus dem Spanischen von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998, 455 Seiten, 44 DM

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