piwik no script img

Einmal Surfen erster Klasse, bitte!

■ Noch sind im Internet alle Daten gleich. Nur verstopfen sie die Leitungen immer mehr. Informatiker haben in Berkeley eine Technik entwickelt, die Datenpakete erster und zweiter Klasse verschicken kann -

Der Tag ist gelaufen, 18.11 Uhr, der Telekomtarif günstig, das Netz ruft: Es ist Zeit zum Surfen in Deutschland. Schnell eingeloggt, die Lieblingsbookmark angeklickt, und dann passiert – nichts. „5 % of 20 K“ steht verloren links unten im Browser, während die Minuten verrinnen. Hilflos flucht der User über den Datenstau, doch es hilft alles nichts. Das Netz ist wieder einmal hoffnungslos überlastet.

Gegenwärtig verfünffacht sich der Datenverkehr im Internet im Laufe eines Jahres. Und so, wie die Pendler im Berufsverkehr im Stau stehen, bilden sich an den Routern der Internetknoten zu Stoßzeiten immer längere Schlangen von Datenpaketen.

Schuld ist die vielgepriesene Anarchie des Netzes, in der alle Daten gleich behandelt und keine Privilegien bei der Übertragung verteilt werden. Mit dem neuen Konzept der „Differenzierten Dienste“ (differentiated services) soll das bald vorbei sein, versprechen jetzt Informatiker am Berkeley Lab in Kalifornien. In einem Test schickten sie kürzlich zwei Videostreams von Berkeley nach Argonne in Illinois über das Energy Sciences Network, kurz ESNet, das die Forschungseinrichtungen des US-Energieministeriums miteinander verbindet. Mit einem digitalen Etikett versehen, das ihnen eine unterschiedliche Priorität gab, mußten beide Streams einen künstlich erzeugten Datenstau bei einem Knotenrechner passieren.

Dort hatten die Informatiker eine spezielle Software installiert, die die Etiketten der Streams lesen konnte. Der Test war erfolgreich: Das Paket mit der höheren Priorität kam achtmal schneller von Berkeley nach Argonne.

Was simpel klingt, sei das Ergebnis einer mehr als zehnjährigen Forschungsarbeit, sagt William McCurdy, Chef der Abteilung für Computerwissenschaften in Berkeley. An dem Projekt waren neben den Instituten in Berkeley und Argonne auch die Firmen „Cisco Systems“, der führende Hersteller von Netzwerkroutern, und „Sprint Telecommunications“ beteiligt.

Außer der Software, die die Datenpakete anhand ihrer Priorität sortieren kann, entwickelten die Informatiker auch noch eine neue Hardware für den „Backbone“ des ESNet, die Standleitungen des Netzes. Doch das größte Problem steht erst bevor. Denn das Internet besteht aus unzähligen Unternetzen, die von verschiedenen Providern mit eigenen Knotenrechnern betrieben werden. Sie alle müssen auf den neuen Standard der Differenzierten Dienste umgestellt werden, um Daten mit hoher Priorität sofort durchwinken zu können. „Wenn die Provider nicht mitziehen, funktioniert das Ganze nicht“, räumt Jon Bashor vom Berkeley Lab ein. „Wir haben diese Technik zusammen mit der Internet Engineering Task Force IETF entworfen.“

Wenn die IETF, die technische Beratungsgruppe des Internets, die Differenzierten Dienste als neuen Standard empfiehlt, müssen die Provider umsteigen, wenn sie im Netzgeschäft bleiben wollen. Soll beispielsweise Video-on-demand, das individuelle Fernsehprogramm per Internet, wahr werden, müssen die Videodaten in Echtzeit das Netz passieren. Sonst stocken nicht nur die Bilder, sondern auch das Geschäft der Multimediabranche. Dabei müssen Datenmengen übertragen werden, neben denen sich E-Mails und aufgerufene Websites lächerlich ausnehmen. Gegenwärtig lassen sich über ISDN-Verbindungen maximal 128 Kilobits pro Sekunde übertragen. Damit kann man kleinere Videosequenzen mit einer nicht zu hohen Auflösung übertragen. Für Video-on-demand werden Übertragungsraten von einigen Gigabit pro Sekunde nötig sein. Hier ist aber bisher nicht nur die Technik ein Problem. Eine Datenbreite von zwei Megabit pro Sekunde kostet um die 50.000 Mark.

Das Konzept der Differenzierten Dienste bedeutet nichts anderes, als daß die Netizens bald entscheiden müssen, ob sie erster oder zweiter Klasse surfen und mailen wollen. Und wie bei der Bahn oder im Flugzeug wird die erste Klasse mehr kosten. Für Jon Bashor ändert sich dadurch nichts – Provider wie AOL, Compuserve und kleinere verlangten jetzt schon verschiedene Preise für den Zugang zum Internet. „Wenn die Differenzierten Dienste erschwinglich werden, können die, die es wollen, ja bei dem einfachen, unvorhersehbaren Dienst bleiben.“ Wer besseren und schnelleren Service will, zahlt halt mehr. ESNet will das System noch in diesem Jahr einführen. Im gesamten Internet könnte es die Netzbürger ab 1999 beglücken, erwartet Bashor.

Technisch ist das Konzept kompatibel mit dem Internet Protokoll Version 6 (IPv6), der neuen Sprache des Internets, in der die Datenpakete abgefaßt und verschickt werden sollen. 1994 von der IETF beschlossen, wird IPv6 in den kommenden Jahren das alte IPv4 allmählich ablösen. Hierbei ist der sogenannte Header eines Datenpakets, der unter anderem die Adresse von Absender und Empfänger enthält, überarbeitet worden. Im IPv6-Header sind im Unterschied zur IPv4-Version Datenfelder für Priorität und Flow Labeling vorgesehen, die beispielsweise großen Videostreams und der Datenpost zahlungswilliger Kunden Vorfahrt im Netz verschaffen werden. Niels Boeing

nbo@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen