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Kampf um die Grundschule

59 Kinder des Auswärtigen Amts kommen in die fünfte Klasse – und schon flammt ein uralter Schulstreit wieder auf. Normalfall oder Besonderheit?  ■ Aus Berlin Christian Füller

Deutschland? Das ist doch da, wo man sich mit zehn Jahren entscheiden muß, ob man studieren will“

So spotten US-Amerikaner gerne über die Antiquiertheit der deutschen Bildungslandschaft. Wer hierzulande studieren will, wird bereits vier Jahre nach der Einschulung in eine komplizierte Lebensentscheidung gestellt: Geh' ich aufs Gymnasium, um die Studienberechtigung zu erwerben? Oder verbaue ich mir mit Real- oder Hauptschule den Weg zum Studium? So steht Hunderttausenden Familien mit dem Übergang der Kleinen in die fünfte Klasse der Hauskrach bevor.

Auch in Berlin, wo man gerne mit den Amerikanern lachte, hat der Spaß nun ein Ende. 59 Kinder zuziehender Mitarbeiter des Auswärtigen Amts kommen in die fünfte Klasse. Bloß in welche? In der Hauptstadt zählen die Jahrgangsstufen fünf und sechs noch zur Grundschule. So ist es schon seit 50 Jahren. Nach 45 gab es eine zeitlang sogar die achtjährige Einheitsschule. Aber im Karpfenteich der 470 Berliner Grundschulen schwimmen 16 Haie: 16 sogenannte „grundständige Gymnasien“, die schon in der fünften Klasse beginnen. Da wollen die Bonner Beamten ihre Schützlinge hin haben. Nur sind alle rund 1.000 Gymnasialplätze bereits belegt, die in Berlin ab der fünften Klasse angeboten werden. Darüber gibt es nun Streit.

Schulsenatorin Ingrid Stahmer, in der Rolle der auf Ausgleich bedachten Mutter, wollte es allen recht machen. Sie gab bekannt, weitere sieben grundständige Gymnasien genehmigen zu wollen. Das hat nun, wie sie in den vergangenen Tagen feststellen mußte, „einen Glaubenskrieg um die sechsjährige Grundschule“ ausgelöst. Nach heftiger pädagogischer und politischer Kritik auch aus ihrer eigenen Partei paßte sich die Sozialdemokratin „der Konfliktlage an“ – sie läßt nun doch keine weiteren Gymnasien zu, die ab der fünften Klasse beginnen. Das wiederum hat den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen auf den Plan gerufen.

Der an sich milde (weil machtlose) Vater im Senat forderte Stahmer auf, ihren ursprünglichen Plan beizubehalten. „Niemand kann mir sagen, daß die Einführung von sieben, zehn oder 15 zusätzlichen gymnasialen Zweigen das System der Berliner Schule in Frage stellt“, sagte der Regierende und führte zwei Begründungen an: Die sechsjährige Grundschule sei ohnehin eine Berliner Besonderheit. Und Frau Stahmer solle nicht auf „bildungspolitische Ideologen“ hören.

Ideologie? Die Gesetzeslage steht klar gegen den Regierenden. Im Schulgesetz ist die sechsjährige Grundschule verankert. Die 16 bestehenden Ausnahmen gelten als pädagogische Sonderfälle: Die Schulen müssen ihren Start in der fünften Klasse damit begründen, daß sie eine altsprachliche Ausrichtung oder ein besonderes künstlerisches oder sportliches Profil vorweisen. Darüber hinaus gibt es eine Handvoll Oberschulen mit „Schnelläuferklassen“, die schon in der zwölften enden. Mit diesen Spezialgymnasien zauste die Große Berliner Koalition 1993 ihre sechsjährige Grundschule.

Ein Sündenfall, der bei Berliner Eltern Begehrlichkeiten geweckt hat. Die sind verständlich, aber nicht immer ganz astrein begründet. Viele der 24 Gymnasien, die nun schon mit der fünften anfangen wollen, haben den Normalfall zum besonderen pädagogischem Profil erklärt: Englisch-Gymnasien etwa oder mathematisch-naturwissenschaftliche, wie sie problemlos auch in der siebten beginnen können. Die heimliche Berliner Schulsenatorin, Sybille Volkholz von den Grünen, fragte prompt, auf welcher Rechtsgrundlage die wundersame Vermehrung grundständiger Gymnasien erfolge. Der Gesetzgeber wird ihr wohl recht geben, wieder einmal.

Aber auch Eberhard Diepgens Argument der Berliner Besonderheit steht auf schwachen Füßen. In Europa ist die vierjährige Grundschule die Ausnahme. Nur in Deutschland, Österreich und einigen Kantonen der Schweiz wird sie praktiziert. Ansonsten, wohin man auch blickt, ist die sechsjährige Basisschule die Regel. In Übersee ist das nicht anders. Mancher europäische Nachbar, wie etwa die Niederlande, hat gar eine achtjährige Grundschule.

Aber selbst in Deutschland ist Berlin weniger Ausnahme als vielmehr Vorbild. Brandenburg hat nach der Wiedervereinigung flächendeckend die sechsjährige Schule für Sechs- bis Zwölfjährige eingeführt. Auch da, wo die Kleinen nur vier Jahre das Abc und das kleine Einmaleins lernen, gibt es anschließend Förder- oder Orientierungsstufen. In Hessen etwa, Sachsen-Anhalt oder Niedersachsen. Auch in Nordrhein-Westfalen denkt man darüber nach, den deutschen Sonderweg der vierjährigen Grundschule zu verlassen. Die Denkschrift Johannes Raus „Schule der Zukunft“ nennt den Grund: Die Zuverlässigkeit der angemessenen Schulwahl ist nach sechs Jahren Grundschule höher, als wenn Kinder und Eltern schon nach vier Jahren wählen müssen.

Und wie sehr der häusliche Friede im kleinen durch den Druck zur frühen Schulwahl gestört ist, beweist im großen Berlins Landesregierung. Weil sich die Familie nicht einigen kann, hat Papa Diepgen in der Koalitionsehe mit der SPD nun eine Kampfabstimmung angekündigt.

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