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■ Killer, Perversionen etc.Fieslinge, die wir sind

Täter. In dem Moment, wo sie geschnappt werden, repräsentieren sie das Böse. Sie haben keine Geschichte. Es gibt keine Notwendigkeit, sie zu verstehen — oder das Verständnis zu verweigern. Bevor sie bestraft werden, ist der Riß, der durch die Gesellschaft geht, ganz deutlich zu sehen. Selbst die Ladendiebe gehören in diesem Augenblick zur moral majority, die sich ekelt und in einem unbedachten Augenblick verführt wäre, gewaltsam Rache zu üben. Feste Charaktere tagträumen von festeren Gesetzen und Gefängnissen.

Opfer. Selbst der Gründungsmythos der christlichen Religion ist auf Kindsmord gebaut. Herodes läßt alle Knaben Bethlehems töten, die jünger sind als zwei Jahre. Weder ihre Namen noch ihre Zahl verzeichnet der biblische Chronist. Wir erfahren nur von dem Überlebenden. Dieser prägt unser Bild des stellvertretenden Opfers. Wir sind entschlossen, den gewaltsamen Tod „der anderen“ mit einer Idee von Schuld zu befrachten.

Schuld/Perversion. Wenn Jesus für unsere Sünden gestorben ist, dann sind wir als Sünder verbunden mit den Verbrechern, die ihn zur Strecke brachten. Die finsteren Fieslinge, die ihre dreckigen Lanzen in seinen weißen Leib rammen, um sich zu überzeugen, daß er wirklich tot ist: so erscheinen sie — also eigentlich wir — auf den Gemälden der Meister.

Der christliche Glaube ist jedoch gütig mit uns Sündern, im Vergleich zu modernen Theorien der Perversion. Diese setzen voraus, Perversionen seien Entgleisungen von den bekannten Bahnen gewöhnlicher Wünsche; oder schlimmer noch, sie seien der Schlamm der Begierde, aus dem die alltäglichen Lüste geformt sind. Demnach wären die mordenden Kinderpornographen unsere willigen Vollstrecker. Daher stammt auch die regelmäßig aufflammende Phantasie, in die Verschwörung seien notwendig Politiker verstrickt.

Medien. Bis zu Marc Dutroux galt, daß die Folterer sich in Kellern abgelegener Häuser eingerichtet haben; ihre Quälereien und Geschäfte, eine einzige dunkle Angelegenheit, der Alptraum in der kürzesten Fassung. Nun hausen die Quäler und Mörder in einem Badeort – mit Seeblick? – und stellen ihre erzwungenen Bilder ins Internet. Es ist plötzlich hoffnungslos romantisch zu sagen: The medium is the message. Statt dessen ist die Gleichgültigkeit des Mediums nun sein Versagen.

Kindheit. Sie ist ein soziales Konstrukt. Es ist ja nur zweihundert Jahre her, da hielt man die feudalen Kinder für Statthalter ihrer Hierarchien, und die anderen waren verhärmte Sklaven ihres Schicksals. Von den Zentren Europas auf die Ränder der südamerikanischen Metropolen gesehen ist es im Prinzip so geblieben. Eine entscheidende Kulturleistung des 20. Jahrhunderts besteht in der Erkenntnis, daß Kinder in sich sexuelle Wesen sind. Das war erkannt und ausgesprochen unter der Voraussetzung, daß diese Kinder geschützt in ihre Selbstbestimmung wachsen. Sie aus Sorge um ihre Moral auf gehemmte Dummerles zurückzustutzen, wird nicht helfen, wie man an den jugendlichen Killern Amerikas erkennen kann. Sie sind umgeben von Legenden der Unschuld, die sie verblenden. Und als ultimativer Kick der Brutalisierung steht über allem die Todesstrafe: ein halböffentlicher sadistischer Exzeß.

Libertinage. Ihr Prinzip ist eine doppelbödige Verlockung, eine bestimmte Sorte Betrug. Sie treibt ihre schönsten Blüten, in „Liebe Sünde“, zum Beispiel. Es ist ein Exzeß der Demokratie, aber unter Subjekten, die ihre Affekte zu steuern wissen. Die pornographische Abmachung seit der französichen Revolution lautet, daß freie Subjekte ihr Begehren bloßlegen dürfen, gegen die verbürgte Ästhetik. Dabei war immer klar, daß die Regeln der Darstellung der Lebenspraxis fern sind. Die Bilder aus der Folterstube von Zandvoort sind aber – wenn die Berichte stimmen – das reality video leibhaftiger Verbrechen. Kriminelle spielen immer mit den Ikonen der Gesellschaft, in der sie leben. Sie sind auf der Höhe der Zeit. Ulf Erdmann Ziegler

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