Die Künstlerkarawane zieht weiter

Die Kunstszene hat die Spandauer Vorstadt attraktiv gemacht. Jetzt werden die Ateliers Opfer des eigenen Erfolgs: Wegen steigender Mieten müssen sie in Außenbezirke wie Köpenick oder Weißensee ausweichen  ■ Von Jutta Wagemann

Die Radfahrerin bremst abrupt. Der Blick der Frau ist an einem Haus hängengeblieben. Kein Schmuckstück. Ein heruntergekommenes, altes Fabrikgebäude mit kaputten Fensterscheiben und bröckelndem Putz. Das könnte es sein – das lang gesuchte, heiß begehrte Atelier. Große, hohe Räume, zentral gelegen und hoffentlich billig zu mieten.

Mit diesem Atelier-Such-Blick fahren immer mehr Künstler durch Berlin. Ihnen fehlt die Mauer. Zu Mauerzeiten waren billige Grundstücke und verlassene Fabrikgebäude leicht zu finden. Wer wollte schon direkt an der Mauer investieren oder gar sanieren? Auch direkt nach dem Mauerfall war die Lage noch gut. In Mitte und Prenzlauer Berg fanden sich genügend Räume, die billig zu haben waren. Die Kunstszene verlagerte sich von Kreuzberg prompt dorthin.

Und wird, so prognostiziert Florian Schöttle, in den nächsten zehn Jahren nach Oberschöneweide in Köpenick, nach Weißensee oder Pankow wandern. Der Atelierbeauftragte des Kulturwerks des Berufsverbands der Bildenden Künstler (BBK), der Schnittstelle zwischen Senat und Künstlern, will zwar Ateliers im Zentrum erhalten und einrichten. Doch die Chancen dafür sind schlecht. Seit 1990 sind in Berlin jährlich 200 Ateliers verschwunden. Vor allem in Mitte wurden zahlreiche Gebäude saniert und dadurch verteuert. Andere wurden den Alteigentümern zurückgegeben, die dort lieber Wohnungen und Büros statt Ateliers einrichteten.

Die Videokünstlerin Vera von Wilcken blickt resigniert aus dem Fenster. Sanierung und Rückübergabe, was das heißt, hat sie zusammen mit ihren Kollegen von der Künstlergemeinschaft „Apparat“ selbst erlebt. Aus ihrem Hinterhaus in Mitte mußte die 40köpfige Mannschaft Ende März wegen Generalsanierung ausziehen. Seitdem sind sie auf der Suche nach neuen Ateliers. „Aber es schielen alle nur noch aufs Geld“, sagt von Wilcken verbittert. Der Mut zu „unkonventionellen Lösungen“ gehe zunehmend verloren. Statt an Künstler vermieteten Hausbesitzer lieber an Arbeitnehmer mit geregelten Bürozeiten.

Auch van Wilckens Kollegin, die Objektkünstlerin Chantal Labinski, ist genervt. Wie die anderen verbringt sie ihre Zeit mit Hausbesichtigungen, Behördenterminen, Anfragen bei Wohnungsgesellschaften und der Kalkulation der Kosten. „In die Vergleichsmieten müßte auch der Leerstand eingerechnet werden“, sagt sie wütend. Viele Vermieter lassen ihre Räume lieber unvermietet, als sie über längere Zeit als Ateliers zu vermieten – das ist auch die Erfahrung des Atelierbeauftragten Schöttle. Die Hauseigentümer hofften auf den großen Reibach in zwei bis drei Jahren.

Doch die Künstler belastet nicht nur die Ateliersuche. Sie sind an ihrer Arbeit gehindert. Die „Apparat“-Leute haben einen Teil ihrer Materialien in ihre Wohnungen gestopft, den anderen Teil in einem leerstehenden Ladenlokal untergebracht. Aus der Not eine Tugend machend, präsentieren sie ihre Materialien, eng zusammengequetscht, als Ausstellung in der Schönhauser Allee 188. Die Wohnungen der Künstler sind in der Regel zu klein, um dort zu arbeiten. So können sich die Künstler zur Zeit weder an Ausstellungen beteiligen noch um Ausschreibungen bewerben. „Man ist so schnell weg vom Fenster“, fürchtet Vera von Wilckens. Mit neuen Arbeiten im Gespräch zu bleiben bedeutet für Künstler, im Geschäft zu bleiben.

Wegen der zunehmend schweren Lage richtete die Kulturverwaltung 1993 das Ateliersofortprogramm ein. Doch auch das schafft keine wirkliche Abhilfe. Hundert Ateliers hat Schöttle über das Programm bislang eingerichtet – in der Regel als Atelierwohnung. Für die nächsten Jahre sind noch weitere Atelierwohnungen als Sozialwohnungen „garantiert“, wie Schöttle sich ausdrückt. Dennoch fehlten noch etwa tausend Ateliers in der Stadt. Um jedoch einigermaßen günstige Mieten anbieten zu können, muß Schöttle auf die Außenbezirke ausweichen. Gerade wurde für 18 Atelierwohnungen im Komponistenviertel in Weißensee Richtfest gefeiert.

Viele Künstler wollen jedoch nicht an der Peripherie arbeiten. Norbert Heins, der über das Atelierprogramm fündig geworden ist, ist auf kurze Wege angewiesen. Für seine Installationen muß er oft Teile transportieren, die er nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln befördern kann. Selbst wenn am Stadtrand die Miete günstiger sei: „Wenn ich die BVG-Monatskarte und die Fahrtzeit wieder draufrechne, komme ich auf die gleichen Ausgaben.“

Die „Apparat“-Mitglieder argumentieren ähnlich. „Wir arbeiten oft bis spät in die Nacht“, erzählt Chantal Labinski. Daher seien sie auf gute U- und S-Bahn- Verbindungen angewiesen. Auch kleine Handwerks- und Zulieferbetriebe ließen sich in den Außenbezirken nicht finden. Noch wichtiger ist den Künstlern jedoch der Austausch mit Kollegen, Galeristen und kunstinteressierten Passanten. Diese Umgebung findet sich in ihren Augen in Köpenick nicht. Auch ausländische Künstler legten Wert darauf, im Stadtzentrum zu arbeiten, sagt von Wilcken. „Die lockt man nicht nach Köpenick“, sagt Pedro Boese von „Apparat“.

Der Atelierbeauftragte Schöttle teilt diese Bedenken. Dabei geht es ihm nicht nur um das Wohl der Künstler. Auch das Leben in Mitte hat er im Auge. Wenn die Künstler weggingen, seien bald auch Galerien, kleine Läden und Kneipen verschwunden. Ein toter Bezirk mit Büros bleibe übrig.

Die öffentliche Unterstützung der Künstler hält Schöttle gerade deshalb für nötig. Das Atelierprogramm eröffne vielen erst die Möglichkeit, geeignete Arbeitsräume zu finden. Daß diese nicht mehr im Zentrum liegen, ist für ihn allerdings eine typische Entwicklung in einer Metropole. Erst kämen die Künstler in ein Stadtviertel, machten es attraktiv, die Nachfrage von Investoren steige, damit die Mieten – und die Künstler zögen weiter. Ein wenig, sagt Schöttle, entspricht das der Funktion der Künstler: „Sie sind das Fenster zum sozialen Übergang.“