: „Auf den Tod warte ich nicht“
Das Haus ist zum Sterben gedacht – und zum Heiraten, Singen oder Reden. Im Hamburger Hospiz „Sinus“ verleben todkranke Menschen ihre letzte Zeit. Die Hälfte der BewohnerInnen ist vierzig Jahre alt ■ Von Judith Weber
Der Tod ist anderswo. Nicht hier, hinter der sonnengelben Tür, vor der ein Rollstuhl parkt wie ein Fahrrad vor dem Hauseingang. Hier, wo Popsongs durch den Raum donnern und Klavierklänge vom Flur aus durch den Türspalt schlüpfen. Der klassischen Musik macht Michaels Anlage locker den Garaus, übertönt sie mit dem Jingle des Radiosenders und mit dem Wetter, das seit Tagen mies ist.
Dieser unangenehme Regen, der gegen die Scheibe pladdert, die Wolken – Michael ist ein bißchen beunruhigt. „Gerade ist Katrin rausgegangen“, erzählt der 42jährige, und daß seine Frau hoffentlich nicht klatschnaß wird. „Die Gesündeste ist sie schließlich nicht.“ Zärtlich besorgt klingt das, als habe nicht er einen Gehirntumor. Als würde sie nicht wegen ihm in einer Sterbeklinik leben.
Sie sind zu Gast im Hospiz „Sinus“, würden die PflegerInnen und ÄrztInnen sagen. „Unsere Gäste“, nennen sie die durchschnittlich 13 BewohnerInnen, als handele es sich um Besucher, die Verwandte und Freunde mitbringen und für Monate, Wochen oder Tage bleiben. Die Hälfte ist vierzig Jahre alt oder jünger; alle sterben hinter den farbigen Türen.
Nach fast einem halben Jahr ist der Raum mit dem Krankenhausbett, dem Radio und dem rot-blauen Sofa für Michael zum „zu Hause“ geworden. Er weiß, wo welche Pflegerin aufgewachsen ist, er weiß, daß Schwester Karla oft vor der Bürotür liegt. Ihr Kopf ruht dann auf einem Flickenteppich; schnaufen, gähnen und auf den Rücken rollen sind eins. Käme da jemand, der sie krault, die Hündin würde zweifellos grunzen vor Glück.
Doch Schwester Karlas Chefin ist in Eile. Das Handy am Gürtel festgeschnallt, durchquert Gabriela Holmer die Gänge mit Schritten, die wie Gehen aussehen, aber Jogging-Tempo haben – und die abrupt stoppen, wenn die Hospiz-Leiterin ein Zimmer betritt oder jemandem begegnet. Zeit ist knapp in der Sterbeklinik, und wer sich in Gesprächen nicht hetzen will, muß anderswo sparsam mit ihr umgehen.
Wie die meisten ihrer KollegInnen knapst Holmer an ihrer Freizeit. Mehr als 600 Überstunden hat die Sozialpädagogin in den vergangenen neun Monaten seit Gründung des Hospizes gesammelt; oft verbringt sie 60 Stunden pro Woche in dem Haus an der Margarethenstraße. „Das gehört wohl dazu, wenn man eine neue Einrichtung aufmacht“, sagt die 34jährige und lächelt, aber erschöpft klingt sie doch.
Schließlich gilt es nicht nur, 13 Schwerkranke zu versorgen. „Für die Angehörigen braucht man oft genauso viel Zeit“, erzählt Holmer. Sie sind traurig, verzweifelt, mit der Pflege der Kranken überfordert oder brauchen Hilfe bei ganz praktischen Dingen: Wer regelt das Sorgerecht für die Kinder? Wie soll die Beerdigung ablaufen? „Manche wollen auch heiraten“, erzählt die Sozialpädagogin und zeigt Fotos von einer Hochzeit in der Wohnküche mit PflegerInnen, Gästen und Hausmusik. Glückliche Mienen auf Polaroid-Bildern.
Gesichter sind wichtig in der Sterbeklinik. Entspannt sollen sie sein und ohne Furchen, wie Schmerzen sie verursachen. „Nur wer schmerzfrei ist, hat den Kopf frei für andere Dinge“, sagt Holmer. „Dann erst können wir versuchen, wieder für mehr Lebensqualität zu sorgen.“ Speziell ausgebildete SchmerztherapeutInnen betreuen die Schwerkranken. Sie lindern die Qualen, die Brust-, Scheidenkrebs oder Aids bringen und bekämpfen Übelkeit und Schwindelgefühle, die auf den Beipackzetteln unter „Nebenwirkungen“ stehen. Lebensverlängernde Maßnahmen gibt es im Hospiz nicht. „Räume zum Leben, Raum zum Sterben“ heißt es auf einer Kollage im Flur.
Der verwinkelte Gang ist so ruhig, wie es lebhaft ist in Michaels Zimmer. Nur ab und an schleicht Musik über den Korridor; die Ölbilder an den Wänden zeigen Menschen und Engel in großflächig-buntem Beisammensein. Mit den Gemälden wollte das Hospiz eine Vernissage veranstalten, als es vor neun Monaten eingeweiht wurde. Der Mann, der sie geschaffen hat, war todkrank und wollte selbst bei „Sinus“ einziehen. Er starb jedoch einen Tag vor der Eröffnung – im Krankenhaus.
Bevor „Sinus“ vor rund neun Monaten eröffnete, gab es in Hamburg keinen Ort, an dem Menschen professionell betreut, aber abseits der Klinkathmosphäre sterben konnten. Die Kranken- und Pflegekassen zahlten keine Hospizrechnungen. Mittlerweile übernehmen sie maximal 350 Mark pro PatientIn und Tag. Um die Kranken optimal zu betreuen, benötigen die 15 „Sinus“-MitarbeiterInnen pro PatientIn jedoch rund 450 Mark. Die Folge: Mit Spenden und Eigenanteil schafft das Hospiz es so gerade, keinen Verlust zu machen. Undenkbar, da neues Personal einzustellen. „Langfristig“, prognostiziert Holmer, „geht das über unsere Kräfte.“
75 Menschen sind bei Sinus bereits gestorben. Anni zum Beispiel, die zu allen sagte: „Nennt mich einfach Tante Anni“, und die durchs ganze Haus juchzte, wenn sie gebadet wurde. „Sie war ein Gewinn für das ganze Hospiz“, sagt Michael, und weiß nicht, daß Gabriela Holmer zwei Zimmer weiter vor wenigen Minuten ebenfalls die Fotos der alten Frau herausgekramt hat. An Anni will sich der 42jährige ein Beispiel nehmen „und nicht immer jammern“. Statt dessen genießen, was es zu genießen gibt.
Michael sollte eigentlich sterben, als er vor vier Jahren heiratete. Das, sagten die Ärzte, läge an dem Tumor, dessen Ableger sich in Michaels Kopf breitmachte. Die Eltern, bei denen er wohnte, waren überfordert; ein Streit berührte den nächsten. Seit seinem Umzug ins Hospiz „geht es besser“, sagt Michael. Zum ersten Mal lebt er mit seiner Frau zusammen, die nur ab und an in ihre Wohnung fährt, um „ein bißchen Abstand zu kriegen. Danach können wir uns wieder richtig aufeinander freuen“, erklärt Michael.
Wenn Katrin weg ist, ißt er mit den Pflegerinnen und anderen Gästen in der Wohnküche. Auf den Regalen steht Kartoffelbrei in Familienpackungen, und manchmal gibt es Essen, das ist „so kalorienarm, daß ich gemeckert hätte, wenn meine Mutter es mir vorgesetzt hätte“. An einem der Holztische saß auch Anni, als sie noch lebte und ermunterte die anderen, mit ihr Lieder zu singen.
Daß der Umgang mit dem Tod so unterschiedlich ist wie der mit dem Leben, ist im Hospiz schnell gelernt. Gespräche, Diskussionen oder Seelsorge „richten wir nach den Bedürfnissen der Gäste“, erzählt Leiterin Holmer. „Manche Menschen haben sich schon sehr damit auseinandergesetzt, wenn sie herkommen, andere wollen das gar nicht.“ Wieder andere wissen nicht, daß ihre Krankheit unheilbar ist – wie eine Frau, die aus dem Krankenhaus angeblich „zur Genesung“ ins Hospiz überwiesen wurde.
Michael ist sich klar darüber, daß er nicht mehr lange leben wird. „Die Ärzte haben mir so oft erzählt, daß ich sterbe – ich mag es einfach nicht mehr hören“, erklärt er. Als ihm eine Medizinerin im Krankenhaus kürzlich erneut den Ernst der Lage klarmachen wollte, sagte er zu seinem Vater: „Ich höre mir diesen Quatsch nicht länger an. Gehen wir etwas essen, ich habe Hunger.“ Wenn Michael wartet, dann darauf, daß Katrin ihn wieder besucht – auf den Tod bestimmt nicht.
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