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■ Der rationale Wähler (I): Der rechtsradikale Wähler weiß, was er tut. Er treibt die etablierten Parteien mit seinen Themen vor sich herDer lange Marsch in die Mitte

„Wählen gehen!“ fordert ein Werbeplakat die Passanten auf. Es wurde nicht vom Bundeswahlleiter, sondern einer großen Automobilfirma geschaltet. „Warum eigentlich?!“ könnte die Antwort des Passanten auf die Zumutung lauten, sich als aktiver Stimmbürger zu verhalten. Die Entscheidung, ob Bürger zur Wahl gehen und welcher Partei bzw. welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben, wird in neueren Theorien des politischen Verhaltens einem Kosten- Nutzen-Kalkül zugeschrieben. Weniger die soziale Herkunft und das kulturelle Umfeld zählen demnach, sondern die Nutzenerwartung jedes einzelnen Stimmbürgers. Der so als Homo oeconomicus definierte „rationale Wähler“ entscheidet sich unter einer Menge verfügbarer Handlungsalternativen für diejenige, die seinen erwarteten Eigennutzen maximiert, also genauso oder ähnlich, wie wenn er sich den Kauf eines Autos überlegt. Die Neigung von Parteien und Kandidaten, sich neuerdings selbst wie eine Ware anzupreisen, kommt dieser Auffassung ebenso entgegen wie die Lösung der Wähler aus ihren „sozial-moralischen Milieus“ und überkommenen Parteibindungen und die Tatsache, daß sie sich zunehmend als individuelle Wechselwähler betätigen.

Selten kommen politische Entscheidungsprozesse tatsächlich wirtschaftlichen Tauschgeschäften nahe, und nicht immer sind Verteilungsfragen zu entscheiden, bei denen sich Bürger materielle Vor- oder Nachteile erwarten können. Die kommende Bundestagswahl stellt ja nicht allein vergangene oder künftige Steuergesetze zur Wahl, sie wirft auch eine Menge werthaltiger Alternativen auf, die sich schwerlich „rechnen“. Stimmungen spielen dabei eine herausragende Rolle, und meistens sind es mißvergnügte. Gleichwohl kann man auch unter Einbeziehung solcher emotionaler Kalkulationen fragen, wie vernünftig sich Stimmbürger verhalten, wenn sie dieser oder jener Partei ihre Stimme geben. Unter diesem Gesichtspunkt sollen zunächst die Sympathisanten rechtsradikaler Parteien („Republikaner“, DVU und NPD) behandelt werden, deren Stimmabgabe demoskopisch am schwersten vorherzusagen ist.

Da die Fünfprozenthürde kein Hinderungsgrund mehr ist, stellen die großen Parteien und die von ihnen beauftragten Wahlforscher die Rechtsradikalen als bizarre Gurkentruppe und skurrile Witzfiguren dar; man verweist wortreich auf die erwiesene Inkompetenz der in Landtage, Stadträte und Kreisparlamente hineingespülten Rechtsaußenfraktionen, auf ihr dubioses Finanzgebaren und ihre mitunter kriminellen Machenschaften. Mit einem Wort: Sie gelten als „handlungs- und politikunfähig“. Und Leute zu wählen, die sich einzig durch Obstruktion und Nichtstun auszeichnen, wäre doch völlig irrational, oder nicht?

Die Schmähung durch die etablierten politischen Eliten ist verständlich und in vielen Punkten begründet. Aber sie verfehlt das Kalkül der Rechtswähler und verkennt den wesentlichen Beitrag, den vor allem die beiden großen Parteien, CDU und SPD, selbst dazu geleistet haben, der Wahl rechtsradikaler Parteien indirekt Rationalität zu verleihen. Rechtswähler wissen selbst, daß ihre Kandidaten nicht unverzüglich Ministerämter und Entscheidungspositionen erringen können, von denen aus die härtere Gangart gegen Ausländer exekutiert werden kann – jedenfalls solange keine andere Partei mit ihnen eine Koalition oder ein Tolerierungsbündnis eingeht. Direkt können sie also ihre politischen Wünsche in der Einwanderungspolitik, Kriminalitätsbekämpfung und Sozialpolitik nicht durchsetzen. Aber es reicht ihnen fürs erste, daß die entsprechenden Themen in den Parlamenten auf die Tagesordnung gesetzt werden mußten und damit etwas zur Sprache kam, was angeblich oder tatsächlich tabuisiert worden ist. Daß die etablierten Parteien, die Grünen eingeschlossen, einräumen, sie hätten bestimmte Fragen zu wenig ernst genommen, gibt diesem Kalkül recht.

Die Annahme, daß man die unangenehme Konkurrenz wieder los wird, indem man die Schattenseiten der Einwanderungsgesellschaft oder die Dauerarbeitslosigkeit in Ostdeutschland oder die desolate Lage in „sozialen Brennpunkten“ anspricht oder, wie es die Parteizentralen ausdrücken, diese Themen besetzt, ist freilich irrig. Es hat sich ja diesbezüglich in den vergangenen Jahren nichts geändert, und die Rechtswähler wollen, daß sich etwas ändert, auch wenn sie nicht besser wissen als die verachteten Altparteien, wie das geschehen soll. Aber die Richtung stimmt schon, und darin besteht der eigentliche Erfolg der rechtsradikalen Wähler.

Man unterstellt ihnen, sie seien bloße Protestwähler – als wenn dies keine vernünftige Option für jemanden wäre, der seine Präferenzen mißachtet und sich nicht repräsentiert fühlt. Darüber hinaus wirken die vermeintlichen Außenseiter innerhalb und vor allem außerhalb der Parlamente längst an der politischen Meinungs- und Willensbildung mit und vermögen die Entscheidungen der Regierungen zu beeinflussen. Man vergleiche die Programme der „Republikaner“ von 1986 oder 1990 mit den einschlägigen Passagen der Wahlplattformen von CDU/CSU und SPD gut zehn Jahre später, und man entdeckt, daß die vermeintlich rechtsradikale Forderung der 80er Jahre zur Position der Mitte in den 90ern geworden ist. Der sogenannte Asylkompromiß der beiden Großparteien entspricht substantiell dem, was weiland Franz Schönhuber gefordert hat, dasselbe gilt für repräsentative Aussagen von Manfred Kanther und Otto Schily zur Inneren Sicherheit.

Das heißt aber: Entweder die von der Mitte aufgenommenen Forderungen waren niemals „rechtsradikal“, oder sie sind es noch heute – oder kommt es nur darauf an, ob etwas von anerkannten Volksvertretern oder von den Schmuddelkindern gefordert wird? Denen ist das gleichgültig, solange sie die Großen vor sich hertreiben können und die gewünschten Effekte erzielen, sogar ohne sich der dubiosen „Gurkentruppe“ selbst anvertrauen zu müssen. Erfolg kommt zu Erfolg.

Das einzige, was letztlich „rational“ noch gegen die Wahl der Rechtsparteien spricht, ist die Zersplitterung zwischen dem nationalen Sozialismus der NPD, dem Nationalpopulismus der DVU und dem Rechtskonservatismus der Reps. Aber die Fusion der bunt-alternativen Listen mit konservativen Naturschützern, von ostdeutschen Bürgerrechtlern und westdeutschen MilieupolitikerInnen hat bereits den Präzedenzfall geliefert, daß auch das keine Lebensversicherung gegen eine rechtsradikale Allianz ist. Claus Leggewie

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