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■ NormalzeitAlles auf Sendungsbewußtsein

„Es ist unser Job, möglichst viele Zuschauer zu haben, ohne wie Zuhälter zu erscheinen“, so sagte es einmal ein berühmter US- Talkshow-Moderator. Das Problem ist also struktureller Natur — es begann in Amerika. Dort wurde im Zuge der „Reaganomics“ die kalifornische Flugzeugindustrie fusionär „verschlankt“. Generationen hatten sich existentiell mit dieser Branche verbunden — und als Flugzeugbauer Karriere gemacht. Plötzlich war den Söhnen diese Perspektive verwehrt. Unschlüssig hingen die „Kids“ trotz Highschool-Abschluß weiter an den Schulen herum. Eines Tages kam es zu einem „Gang-Bang“, das das heißt eine Gruppe arbeitsloser Kids vergewaltigte ein junges Mädchen — bald kam es zu weiteren „Gang-Bangs“ in anderen Flugzeugbauer-Siedlungen. Die von überallher angereisten Journalisten bedrängten die Bewohner — und diese erklärten unisono: An dem Unglück ihrer Söhne und Töchter seien allein die Medien schuld. Diese Formel zur Ursachenforschung bei sozialen Verwerfungen machte Furore. Überall hieß es: „Die Medien sind schuld!“ Diese ließen daraufhin eine große „Mea culpa!“-Debatte vom Talkshow-Stapel.

Wobei sie davon ausgingen, daß das „Talken“ aus den Sopa-operas entstanden sei, die nichts mehr mit dem wirklichen Leben zu tun gehabt hätten. Die Talkshow als umgedrehte Lindenstraße quasi, wo der wahre Alltag mit echten Darstellern aufgegriffen wird (als Synthese erfreut sich im Angelsächsischen neuerdings die „Docu- Soap“ immer größerer Beliebtheit, was dem sozialistischen Realismus nahe kommt). Hier ist man noch nicht so weit. Auch nachdem in Eberswalde der Afrikaner Antonio Amadeo von Neonazis erschlagen worden war, gaben die Bewohner der Stadt vor allem „den Medien“ die Schuld. Viele Ostdeutsche begriffen die quasi über Nacht vom Westen ferngesteuerten Medien als „Gewaltmonopol“! — Das sie durchaus auch für sich zu nutzen verstanden. So ließen sich z. B. immer mehr ostdeutsche Arbeitsplatzbesitzer, allen voran die Berliner „Betriebsräte-Initiative“, gegenüber der Treuhand „medienwirksame Aktionen“ einfallen.

Der sowohl im Auftrag der West-IG-Metall als auch der Treuhandanstalt als Auffanggesellschafter im Osten für nahezu alle Arbeitslosen tätige Jurist Jörg Stein meinte: „Die Betriebsräte überschätzen die Medien gewaltig. Die meinen, wenn sie nur in die Presse kommen, ändert sich bereits was.“ Diese Meinung wurde und wird von den Medien selbst verbreitet.

Die Berliner Zeitschrift „Müßiggangster“, herausgegeben von den „glücklichen Arbeitslosen“, druckte dazu in ihrer Oktober- Ausgabe einen Briefwechsel — mit „Ilona Christen“ — ab. Diese lud die „glücklichen (Ostberliner) Arbeitslosen“ in ihre RTL- Talkshow ein „anonym selbstverständlich“ — und mit der Begründung: „Es wäre interessant zu erfahren, wie sie es geschafft haben, mit dieser Lebenssituation positiv umzugehen.“ Die „Müßiggangster“ lehnten ab: „Glückliche Arbeitslose ziehen es vor, sich selbst zu vermitteln.“ Daraufhin meldete sich der Guest-hunter von „Ilona Christen“ in Berlin: „Wenn es für Sie der richtige Weg ist, sich selbst zu vermitteln [...] dann hätten Sie doch durch die Sendung die Chance, dies denen klarzumachen, die vor dem Fernseher hocken [...].“ Einer der „Müßiggangster“ erklärte ihm daraufhin noch einmal den Unterschied „zwischen eigener und medialer Vermittlung“ und wies im übrigen darauf hin: „Anonymität im Fernsehen bewahren zu wollen, ja, es auch nur vorzugeben, halte ich für die absurdeste Idee seit der Erfindung dieser Kiste, aber ich will Sie nicht überfordern.“ Zu guter Letzt ließ der Guest-hunter von Ilona Christen die Katze aus dem Sack: „Wir hätten Sie übrigens [...] eingeladen, [...] als jemand, der das Sozialsystem jahrelang systematisch mißbraucht hat.“ Helmut Höge

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