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Hell schimmernde Oberflächen

Weil das Leben zu kurz ist, um ohne Schubladen auszukommen, arbeitet Matthias Politycki fleißig am Selbstbild der sogenannten 78er-Generation und am Mythos einer Literatur, die so sein soll wie Rockmusik. Jetzt gibt es seine einschlägigen Essays in einem Band  ■ Von Gerrit Bartels

Betroffenheitsfachmänner, WG-Gleichstellungsbeauftragte in Sachen Geschirrspülen oder feministische Softies sollen sie gewesen sein, die 78er, und „das Auffallendste an ihnen war ihre qualifizierte Unauffälligkeit, die intelligente Mittelmäßigkeit der Spätberufenen“. Solcherart zugespitzt hat Reinhard Mohr 1992 die von ihm ins Leben gerufene „Generation, die nach der Revolte kam“, beschrieben, und der Schriftsteller Matthias Politycki, geboren 1955, hat sich angesprochen gefühlt. Doch nicht, um nun weinerlich Nabelschau zu treiben. Auch nicht, um mit Mohr ordentlich ein Hühnchen zu rupfen, schließlich „ist das Leben zu kurz und die Kunst zu lang, um ohne Schubladen auszukommen“: Politycki instrumentalisierte das Mohrsche Generationskonstrukt, um die gleichaltrigen Kollegen aufzuscheuchen und die Definitionsmacht vor allem auf dem Feld der Literatur nicht kampflos den 68ern und den 89ern zu überlassen.

Nachlesen kann man das jetzt alles noch einmal in dem Essayband „Die Farbe der Vokale“, in dem Matthias Politycki all seine Einwürfe, Ausfälle und Polemiken zu „Literatur, den 78ern und dem Gequake satter Frösche“ (so der Untertitel) gebündelt hat. Um eine „Neue Deutsche Lesbarkeit“ und eine „Neue Äußerlichkeit“ geht es Politycki, um einem Tanz auf „Neuen Oberflächen“, die „wir in den letzten Jahren vor lauter Vielschichtigkeit verloren haben“. Allerdings möchte Politycki keiner schnell konsumierbaren Bestsellerliteratur das Wort reden: Leute, denen egal ist, was auf dem Büchertisch liegt, „Hauptsache, es ist gut erzählt“, Kritiker, die die Romane aus den amerikanischen Creative-Writer-Werkstätten abfeiern, „die Halbjahresheroen der amerikanischen Plapperprosa“ selbst – sie alle bekommen genauso ihr Fett weg wie die Sachverwalter der literarischen Hochkultur (Handke, Strauß) und diejenigen, die Anspruch und hohes Niveau mit Avantgarde verwechseln: „Beileibe nicht alles Unverständliche ist innovativ.“

Die Moderne kennen, zitieren und überwinden, sich in die Abgründe der Postmoderne begeben, sich dort nicht verlieren und gestärkt aus ihnen hervorkommen: darum geht es Politycki, und nichts Schlimmeres gibt es für ihn als Unterhaltung ohne Anspruch und Form. Man folgt ihm ganz gern durch sein Programm, weil er provoziert, zuspitzt, locker ist und sich auch für die dümmsten Eßmetaphern nicht zu schade ist (selbst wenn die auf Dauer nerven). Sein Tanz zwischen den Generationen und literarischen Weltanschauungen jedenfalls ist unterhaltend und erzeugt Leselust. Da verzeiht man ihm auch so hausbackene Einfälle wie den, daß Literatur nicht wie Klassik oder Jazz zu sein habe, sondern wie Rockmusik. Da ist er dann ganz der Vierzigjährige, der in seiner Jugend zuviel Led Zeppelin und Pink Floyd gehört hat, und den jeder Zwanzig- bis Dreißigjährige mit LTJ Bukem (Erzählfülle und Ornament) und The Modernist (auf die Form reduziertes, knappes, wenn auch elegantes Erzählen) auskontern würde.

Andererseits könnten die ganz jungen Autoren, auf die sich die Verlage nur allzugern stürzen, sagen wir Stuckrad-Barre, Hennig von Lange oder Özdogan, die Verve und das Engagement eines Polityckis für die eigenen Texte ganz gut gebrauchen. Denn was denen fehlt, ist das, was Politycki am Ende von „Literatur muß sein wie Rockmusik“ als Mindestanforderung stellt: „Literatur muß sein wie die No-name-Combo aus Rosenheim, die vor 30 Zuhörern – nicht etwa um die Abendgage spielt oder den Applaus, sondern: um ihr Leben.“

Wer nun glaubt, Politycki hätte sich erst seit der Geburt der 78er- Generation aufgerufen gefühlt, auf die Barrikaden für eine neue und bessere deutsche Literatur zu gehen, wird mit diesem Band eines Besseren belehrt, allerdings erst spät: Denn Politicky hat seine Essays zwar chronologisch, also nach Erscheinungsdatum in den jeweiligen Medien geordnet, aber in umgekehrter Reihenfolge. Und da erfährt man, daß er sich schon vor vielen Jahren gegen Schubladisierungen wie „die unterhaltsame amerikanische Litertur vs. die schwierige, ungenießbare deutsche Literatur“ gewehrt hat; da sagen allein schon Aufsatz-Titel wie „Wenn du zum Dichten gehst, vergiß die Feile nicht“ oder „Form ist Wollust“, wie ausgeprägt bei ihm der Wille zur Form ist. Da erfährt man aber auch, wie da jemand bei Erscheinen seines Debütromans „AusFälle“ glaubte, eine spannende Geschichte geschrieben zu haben, und von der Kritik nur auf rein Formales reduziert wurde.

Die Gefahr, daß so was (wie auch beim Erscheinen des „Weiberromans“, der ja gern als Schlüsselroman der 78er-Generation gelesen und rezipiert wurde) erneut passiert, ist mit „Farbe der Vokale“ natürlich gegeben. Doch wer so austeilt wie Politycki, wer so beharrlich nervt, der wird das locker wegstecken können. Also: Wir freuen uns auf die hell schimmernden und gut fühlbaren Oberflächen, auf denen Politycki in seinem nächsten Roman vielschichtig und anspruchsvoll erzählt.

Matthias Politycki: „Die Farbe der Vokale“. Essays. Luchterhand Verlag, München 1998, 271 Seiten, 29,80 DM

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