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Abstieg auf den Hasenbergl

Eine Woche in Münchens verrufenstem Stadtteil belehrt über die Heimatgefühle von Menschen jenseits der unsichtbaren Grenze und den Nutzen ganz normaler Mietverträge  ■ Von Philipp Maußhardt

Wenn Heinrich Strauß in die Stadt fährt, und es fragt jemand, wo er wohnt, dann murmelt er etwas vom „Monte Karnickel“ und geht weiter. „Dann schauen sie einen nicht so dumm an.“ Strauß lebt seit dreißig Jahren im verrufenen Münchner Stadtteil Hasenbergl – und er fühlt sich wohl dort.

Die U-Bahn lügt. Münchens nördlichste U-Bahnstation Hasenbergl hält oben schon nicht mehr, was sie unten verspricht. Die unterirdische Haltestelle aus Stahl und Glas entläßt die Fahrgäste in eine Wohnblocklandschaft: Das Hasenbergl ist Münchens Elendsviertel: Schnell gebaute Kästen, in den sechziger Jahren auf die Wiese gestellt, weit, weit weg von den teuren Einkaufsstraßen im Zentrum. Mehr als 20.000 Menschen leben hier im sozial geförderten Wohnungsbau, nochmals etwa 500 in Notunterkünften. Kaum ein Münchner traut sich hinaus zu den „Hottentotten“. Und die Hasenbergler fahren nur selten hinein zu den „Großkopfeten“. Meine Tasche hatte ich wieder gepackt, den Schlafsack eingerollt und mich bei meinem Wohnungsgeber bedankt. Eine Woche lang war die verrufenste Straße des Viertels meine Adresse: Wintersteinstraße. Zuvor hatte ich ein wenig angegeben, „ich zieh' ins Hasenbergl“, und man hatte mir „Glück“ gewünscht. Wer Hasenbergl sagt, meint meist nur den Norden der Siedlung, wo nach dem Krieg die „Frauenholz-“Baracken standen, damals Deutschlands größte Obdachlosenunterkunft für 5.000 Menschen. Noch heute wohnen hier in fünf unansehnlichen Wohnblöcken die „Unterkünftler“, eingewiesen von der Stadt, „zur vorübergehenden Unterbringung“.

Klara Segl wohnt seit mehr als vierzig Jahren vorübergehend hier. Meine neue Nachbarin war mir schon am ersten Tag aufgefallen, weil sie nur in Hausschuhen auf der Straße stand und auf mein „Grüß Gott“ mit einem Jodlerschrei geantwortet hatte. „Mußt nicht erschrecken“, beruhigte mich Fritz Baumgartner, den sie hier „den Bürgermeister“ nennen. „Das macht sie immer.“ Dann gingen wir hinein zu Klara Segl, und ich brauchte ein wenig, bis ich die Fassung wiedergefunden hatte. Klara sammelt Spielzeug aus dem Müll. Von der Eingangstür bis zu ihrem Bett gibt es nur noch einen Trampelpfad, seitlich davon türmen sich Puppen und Spielsachen bis unter die Decke. „Juuuhuuu“, schrie Klara, „gell, da schaust!“

Klara Segl hat seit Jahren ihr Viertel nicht mehr verlassen. Und umgekehrt kommt niemand aus der Stadt zu ihr zu Besuch. „Einmal Hasenbergl, immer Hasenbergl“, hatte „Bürgermeister“ Baumgartner gesagt. Auch er wohnt hier seit Jahrzehnten. Irgendwann hatte er begonnen, neben den Eingängen der Blocks kleine Gärten anzulegen. Die Stadt ließ sie wieder einebnen. Dann pflanzte Fritz Sträucher. Die Stadt riß sie heraus. Die Bewohner der Unterkünfte sollten sich hier nicht auf Dauer einrichten, argumentierte man, sonst gingen sie gar nicht mehr weg.

Abends im „Mathäser“ war Tanz. Oben im Saal schob sich ein Pärchen übers Parkett, unten in der Schwemme saßen die, die immer da sitzen, und noch einen Stock tiefer kegelte der „KC Harmlos“. Josef Klein ist Vorsitzender des Kegelvereins, und selbstverständlich mußte man mit ihm erst eine Weile über Mallorca sprechen, ehe man zum Thema kam. Mit sechs Geschwistern ist Klein in den „Unterkünften“ aufgewachsen, „gebadet wurde einmal in der Woche im Badehaus“. Klein ist inzwischen Kleinunternehmer. Er hat eine Renovierungsfirma und könnte sich woanders eine Wohnung leisten. Doch er ist nur auf die andere Seite der Wintersteinstraße gezogen, „weil?“, ja, „weil ich mich hier wohlfühle“, sagt er, und weil er hier eben jemand ist.

Die unsichtbare Mauer, die zwischen München und dem Hasenbergl verläuft, wird auch andernorts sichtbar. Der Taxifahrer am Münchner Marienplatz weigert sich, mich an einem Abend gegen 23 Uhr in die Wintersteinstraße zu bringen. „Fahre ich um die Zeit nicht mehr an“, sagt der Taxler. „Die Leute zahlen nicht, oder es gibt anderen Ärger.“ Ein Viertel und seine Vorurteile. Auch ich mache mich auf die Jagd und schaue auf Spielplätzen nach Drogenbestecken. Ist der Ruf erst ruiniert, kann selbst die Polizei kein Vorurteil mehr abbauen: Laut Statistik ist die Zahl der Gewaltdelikte im Hasenbergl heute nicht mehr höher als in manchen anderen Münchner Stadtteilen. Ein Polizeirevier gibt es im Viertel nicht. Nur tagsüber fahren die Streifenwagen langsam an den Blöcken vorbei. Als Mahnung.

„Früher war es wirklich schlimm“, erzählte mir Erika Jetzinger, als wir auf ihrem Sofa saßen. Doch seit die Städtische Wohnungsbaugesellschaft GWG die heruntergekommenen Unterkünfte und Mietsblöcke saniert hat, hat auch die Kriminalität im Viertel abgenommen. Jetzt läuft sie mit ihrem Mann nachts wieder durch das Kieferwäldchen gegenüber, und daß sie über eine Wurzel stolpern könnten, ist dabei ihre größte Sorge.

An einem Nachmittag war ich in das Verkaufsbüro der GWG gegangen und hatte mir Unterlagen für eine Eigentumswohnung geben lassen. Zum ersten Mal versucht die GWG am Hasenbergl neugebaute Eigentumswohnungen zu verkaufen. Für Münchner Verhältnisse sind sie mit 4.500 Mark pro Quadratmeter nicht einmal übermäßig teuer. Aber von den 56 Wohnungen sind bis heute gerade vier verkauft. Der Verkäufer ist nicht zu beneiden: „Wenn jemand hört, in welchem Viertel die Wohnungen liegen, kommt er meist nicht einmal her, sie anzuschauen.“

Reinhard Hencir hat einen einmaligen Job: Der Sozialarbeiter soll im Auftrag der GWG den Ruf des Stadtteils verbessern. Dazu besucht er unangemeldet „schwierige Mieter“ und redet mit ihnen. Erst freundlich, dann noch freundlicher, und wenn das nichts nützt, droht er mit Kündigung. Als ich ihn traf, kam er gerade leicht verstört aus einem Hochhaus, in dem ein Drogenabhängiger mit seinen freilaufenden Schäferhunden die Nachbarn drangsaliert. Die Hunde hatten Hencir angefallen und an das Treppengeländer gepreßt. „Erst auf mein Schreien hat der Mann reagiert. Ich habe ihm die Folgen ausgemalt, wenn so etwas noch mal passiert.“

Die Helferdichte im Hasenbergl ist rekordverdächtig. Allein der Soziale Beratungsdienst e.V., ein Ableger der evangelischen Kirche, beschäftigt 320 Mitarbeiter, vor allem Sozialarbeiter: Arbeitslosentreff, Familienberatung, sozialpsychiatrischer Dienst, ambulante Hauspflege, Altentagesstätte, heilpädagogische Tagesstätte... die Liste der Einrichtungen ist weit länger. Im „Stadtteilcafé“ neben den Unterkünften werden arbeitslose Frauen im Service und in der Küche geschult. 80 Prozent von ihnen finden anschließend reguläre Arbeit. Zum Mittagessen ab 5,50 Mark kommen auch einige der etwa 200 hier lebenden Sinti, die ansonsten unter sich bleiben.

Zum Jahresbeginn hat die Stadt München ein bundesweit einmaliges Projekt gestartet: Die Obdachlosenunterkünfte sollen Zug um Zug den Bewohnern zur Miete überlassen werden. Man hat erkannt, daß Obdachlosigkeit kein „vorübergehendes“ Problem ist. Mit der Umwandlung soll nun „der letzte Schritt zur Normalisierung“ getan werden.

Darauf haben die Unterkünftler seit Jahren gewartet: Gemeinsam mit den Sozialarbeitern der „Gemeinwesen Arbeit e.V.“ hatten sie darum gekämpft, nicht länger als Manövriermasse auf dem Wohnungsmarkt herumgeschoben zu werden. Denn sobald bisher ein Familienmitglied auszog oder starb, konnte die Stadt die Bewohner in eine kleinere Wohnung „umsetzen“ – auch in einen anderen Stadtteil. Daß nun für viele das Stigma „Obdachlosigkeit“ wegfällt, nimmt den hier lebenden Ausländern zudem die Angst, ausgewiesen zu werden. Die Aufenthaltsgenehmigung wurde aus diesem Grund bisher immer nur um drei Monate verlängert. Bei einer Befragung waren drei Viertel für die Umwandlung, obwohl nun ihre Miete steigt. Sie wollen endlich als normale Münchner gelten.

Unter den unglücklichen Bewohnern des Hasenbergl nimmt Umile Rago eine Spitzenstellung ein. Vor einigen Wochen eröffnete der Italiener ein Lokal in einem neu errichteten Geschäftszentrum. „Ich habe wohl den Fehler meines Lebens begangen“, klagt Signore Rago, „ich wußte nicht, daß die Menschen hier so wenig Geld besitzen.“ Ganz allein stehen er und seine Frau an manchen Abenden in dem großen Lokal, dabei haben sie die Preise schon unter Meeresniveau gesenkt: Die Speisekarte beginnt bei 5,50 Mark. Ich aß Nudeln mit Scampi und hätte gern zweimal bestellt. Sie taten mir leid.

Am letzten Abend ging ich ins „Stadtteilcafé“ zur Ausstellungseröffnung von Edith Lisunas. Landschaftsbilder, von der 71jährigen Frau in ihrer Zweizimmerwohnung in der Wintersteinstraße gemalt. Sie hatte ihre Bilder noch nie öffentlich gezeigt. Da saß dann die alte Dame, in einer graußen Stoffhose, einer roten Strickweste, die Haare unter einem Reif gefaßt und lächelte verlegen, sobald ein Besucher zur Tür hereinkam. Tags zuvor hatte ich sie zu Hause besucht. Wir hatten uns über ihre Bilder unterhalten, und schon im Gehen hatte sie mir unvermittelt ein Heft in die Hand gedrückt.

Es war ihre Lebensgeschichte. Sie begann mit ihrer Geburt unter einem Zirkuswagen nördlich von Berlin. Großgeworden ist sie in einer jüdischen Familie. Aus dem KZ ist sie geflohen. Dem Hasenbergl entkam sie nicht.

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