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An den Schmerzgrenzen

■ Ziviler Ungehorsam gegen Leukämie-Schock: Friedliche Blockade des AKW Krümmel Von Patricia Faller

„Gorleben ist überall – Tag X wir stellen uns quer“, steht auf dem gelben Schild, das an der Blockade aus Verkehrsschildern, Müllbehältern und Pflastersteinen vor dem Haupteingang zum Atomkraftwerk Krümmel lehnt. Jugendliche in weißen Schutzanzügen oder in Zivil sitzen vor dem vergitterten Tor und singen Protestlieder, fest entschlossen, keinen Menschen rein- oder rauszulassen. Äste und Gestrüpp versperren eine andere Zufahrt. Obenauf ein Polstersessel, in dem ein sonnenbebrillter Demonstrant sitzt und seinen MitstreiterInnen beim Kartenspielen zusieht.

Rund 200 Atomkraftgegner, die Polizei sprach von 150, aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen behinderten am Samstag einen Tag lang die Revisionsarbeiten im „Krümmel-Monster“ an der Elbe. „Wenn wir nur demonstrieren, dann nimmt uns keiner ernst“, erklärte Birte Priebe vom Anti-Atom-Büro Hamburg. Durch „Zivilen Ungehorsam“ wollten sie ihren „Schock“ über die Leukämieerkrankungen deutlich machen und ihrer Forderung nach einer sofortigen Abschaltung von Krümmel mehr Nachdruck verleihen. Seit Jahren stehe das AKW unter Verdacht, für viele Leukämieerkrankungen von Kindern verantwortlich zu sein. Einen Tag vor der Blockade hatten zwei Ärzte beim schleswig-holsteinischen Energieministerium beantragt, das AKW Krümmel vom Netz zu nehmen.

Die Proteste am Samstag verliefen friedlich. Die Abordnung in Grün vom Polizeirevier Geesthacht beschränkte sich aufs Beobachten und Videofilmen fürs Polizei-Erinnerungs-Archiv. Auch wenn Einsatzleiter Bernd Hupasch einräumte, daß die Blockade am Rande „meiner Schmerzgrenze“ lag, griffen die Polizeibeamten nicht ein. Auch nicht, als Schichtwechsel im AKW angesagt war und kein Arbeiter durchkam. „Ihr dürft heute Kaffeetrinken gehen“, begrüßten die Atomgegner die AKW-Beschäftigten, die gegen 14 Uhr eintrafen, um ihre Kollegen abzulösen. Einige reagierten gereizt und wollten sich gar nicht über einen freien Samstag nachmittag freuen. Andere zeigten Verständnis und meinten, sie hätten nichts dagegen, wenn die Protestierer die ganze Woche dablieben. Die Betriebsleitung verschob den Schichtwechsel und gab die Parole heraus: „Nur keine Konfrontation.“ Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, einige TeilnehmerInnen nach „Farb-schmierereien“ an Mauern und auf dem Straßenpflaster wegen Sachbeschädigung anzuzeigen.

Daß bei den Wartungs- und Reparaturarbeiten, wie sie seit Anfang September in Krümmel vorgenommen werden, denn auch hunderte von Leiharbeitern in den verstrahlten Kraftwerksbereich geschickt würden, kritisierte Axel Scheele vom Anti-Atom-Büro Hamburg in seiner Rede. „Wer dann Jahre später wegen dieser Arbeit im AKW Krebs bekommt oder daran stirbt, interessiert kaum jemanden – vor allem nicht die Betreiber des AKW.“ Zwar würde mit Hilfe von Meßgeräten darauf geachtet, daß die Grenzwerte nicht überschritten würden. Aber Beispiele wie die des inzwischen an Lungenkrebs gestorbenen Necati Demirci, der eine Strahlen-Überdosis bei Reinigungs- arbeiten in den Hanauer Nuklearbetrieben abbekommen hatte und bis heute nicht als Strahlenopfer der Atomindustrie anerkannt worden sei, zeigten, welches Risiko diese Menschen auf sich nehmen. Scheele kritisierte auch die ungeklärte Entsorgungsfrage und den gefährlichen Atommülltourismus.

„Wir befinden uns mit der Aktion in bester Gesellschaft“, so Scheele weiter. Denn am Sonntag versammelten sich Atomkraftgeg-ner beim Endlager in Gorleben (s. S. 21). Ein geplanter Castor-Transport von Brokdorf zur französischen Wiederaufbereitungsanlage nach La Hague soll heute blockiert werden. Das sei aber erst der Auftakt zu einem „heißen Herbst“, sagte der Atomkraftgegner und rief die Anwesenden dazu auf: „Versauen wir der Atomindustrie ihr Geschäft.“

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