: Ansichtssachen ...
... und Meinungsverschiedenheiten: Stellungskrieg in der Suppenküche ■ Von Gabriele Goettle
Im Vorgarten der Spandauer Adventistengemeinde treffe ich wie verabredet den Antiquar. Er sitzt auf einer Bank unter hohen Koniferen und lauscht, leicht vorgeneigt, den Worten eines kleinen, verwachsenen Mannes mittleren Alters. Den Kleinen kenne ich flüchtig. Er hat, als Folge einer Kinderlähmung, starke Verkrümmungen der Wirbelsäule und des Beckens erlitten. Äußerlich werden die Schäden als Auswölbung an Brustkorb und Rücken sichtbar und an den schräg verdreht im Becken sitzenden Beinen, mit denen nur ein humpelnd-schlurfender Gang möglich ist. Man tuschelt viel, auch weil er Gummi- und Lederfetischist ist, wagt aber nicht, sich offen über ihn lustig zu machen. Der Kleine tritt selbstbewußt, oft geradezu provozierend auf, ohne jegliche Verlegenheit. Heute trägt er einen camouflagefarbenen Kampfanzug und hohe schwarze Schnürschuhe, denen nicht anzusehen ist, ob sie orthopädischen oder militärischen Zwecken dienen sollen.
Der Antiquar reicht mir die Hand und sagt, amüsiert auf den Kleinen weisend: „Na, was sagst du dazu, hat er nicht die passende Garderobe gewählt?“ Der Kleine winkt ab: „Ach, da hätte ich noch ganz anderes zum Anziehen. Was glaubst du, was ich alles zu Hause habe, allein die Gasmasken ... Und grade gestern hab' ich wieder einen Kleppermantel aus den 30er Jahren ganz billig bekommen. Aber ich sagte eben etwas, das möchte ich noch zu Ende sagen, wegen den Tarnkappenbombern. Das ist ja total faszinierend, das Flugzeug, es galt doch als unbesiegbar, trotzdem ist es abgestürzt, oder abgeschossen worden wohl eher. Einundachtzig Millionen krachen einfach so auf die Erde, bums! Und schon ist alles vollkommen wertlos. Die Dinger haben ein Handicap, sie sind nur an einer einzigen Stelle und nur einen Moment lang verwundbar: in dem Moment, wo die Bombenklappen aufgehen und die Bomben abgeworfen werden. Dann ist es aus mit der Tarnung, dann kann man sie erwischen! Das wird bestimmt nicht der letzte sein, der in diesem Krieg zerstört worden ist.“
Der Antiquar blickt zerstreut auf die verblühenden Osterglokken und sagt: „Das Wort KRIEG darf ja nicht gesagt werden, es heißt ,Nato-Luftangriffe‘, ,humanitäre Hilfe‘ oder ich schlage vor, gut wäre auch ,sittliches Stahlbad von Moltke‘.“ Der Kleine sagt: „Krieg ist Krieg. Im Prinzip bin ich schon dafür. In diesem Fall jedenfalls, es gab ja keine andere Lösung, nur frage ich mich, wer das am Ende alles wieder bezahlen soll?“ Der Antiquar sagt höhnisch: „Wir können ja alle auf ein Drittel unserer Sozialhilfen und Renten verzichten.“ Der Kleine ruft empört aus: „Na, also ich nicht! Mir reicht das bißchen Geld, das ich kriege, schon so kaum aus.“ Aber der Antiquar bleibt hart: „Das wird so kommen, ob du dafür bist oder nicht! Sie wollen ja schon lange Einsparungen am sozialen Netz vornehmen, da kommt jeder Vorwand richtig. Dieser besonders. Warte, bis die ersten toten Bundeswehrsoldaten zurückgebracht werden, dann wird angeordnet, daß alle aus Patriotismus den Gürtel enger schnallen müssen.“ „Ja klar, ist im Prinzip ja auch richtig, aber nur mit dem Unterschied, daß bei einem im Gürtel ein Fettwanst ist und beim anderen nichts“, entgegnet der Kleine ärgerlich. Der Antiquar schaut auf seinen Altherrenbauchspeck hinunter, kneift prüfend mit Daumen und Zeigefinger hinein und sagt: „Ich bin gegen diesen Krieg. Sie wollen uns weißmachen, daß es um reine Menschenliebe geht. Sowas ist deprimierend. Es wird gelogen und manipuliert, daß sich die Balken biegen wie noch nie. Opposition rührt sich kaum, weil die ehemalige Opposition jetzt selber am Hebel der Macht klebt und mitlügt. Und ich habe SPD gewählt! Ich möchte mich dafür ohrfeigen. Hätte ich doch nur Kohl gewählt! Hätte Kohl die Wahlen gewonnen, dann wäre alles anders gekommen, so oder so, jedenfalls hätten wir eine starke Opposition und Protestbewegung. Na, wenigstens läuft eine Strafanzeige gegen Bundeskanzler Schröder, gegen Kriegsminister Scharping und den größten aller Schurken, gegen Außenminister Fischer, und zwar wegen Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges, gestellt von über 40 Rechtsanwälten. Zur ersten Parlamentssitzung im Reichstag, habe ich gelesen, werden ehemalige KZ-Häftlinge eine Mahnwache machen, aus Protest gegen die deutsche Kriegsbeteiligung.“ Der Kleine schüttelt den Kopf und entgegnet resolut: „Ja, aber was soll man machen? Nun is' es mal passiert und muß zu Ende gebracht werden, gewaltsam ...“ Fréderic, der elsässische Kirchenmaler, kommt und sagt mit gerunzelter Stirn: „Ja, was isch'n des, bei der Kälte hier draußen hocken! Kommt, gehn wir rein zum Essen.“
Die ungleiche Gruppe betritt den Eingangsraum, in dem, neben einem Garderobenständer und zwei Vitrinen, angefüllt mit Handarbeiten älterer weiblicher Gemeindemitglieder, nur noch ein sehr langer, gedeckter Tisch Platz findet. Nebenan, in einem Raum gleicher Größe, befindet sich ein weiterer, etwas kleinerer Tisch, an dem gewohnheitsmäßig Behinderte und Spandauer Suppenküchenbesucher sitzen. Hier wird auch gekocht, und zwar eine deftige Hausmannskost, zubereitet von einem ehrenamtlichen Helfer. Andere ehrenamtliche Helfer, Männer und Frauen, meist im gesetzteren Alter, nehmen an einer kleinen Theke die frisch gefüllten Teller in Empfang und servieren so wirklich heiße und nicht verkochte Gerichte, was der routinierte Suppenküchenbesucher sehr zu schätzen weiß. Aus diesem Grunde ist es hier meist sehr voll, heute aber sind im Vorraum noch mehrere Plätze frei. Der Antiquar belegt, wie üblich, einen der Stühle und sagt: „Für Bollweber.“
Kaum sitzen wir, wird das Essen gebracht. Kartoffeln mit Senfsoße und Ei. Wer möchte, kann drei harte Eier bekommen, statt einem. Die meisten möchten. Während der Antiquar seine Kartoffeln in der gelblichen Soße zerdrückt, fragt er mich: „Ach, Gabriele, habt ihr schon den Diderot bekommen, ja, ,Jakob und sein Herr‘? Ich hab's mir neulich im Buchladen angeguckt. Ein schönes Buch, mit dem roten Umschlag und der Korpus Diderot ... Quatsch, Korpus Didot Antiqua; und die Illustrationen aus der Enzyklopädie seh'n auch sehr gut aus, so auf rosa Untergrund. Ich hab' ja die vierbändige Ausgabe, die Erzählungen von Diderot, die ist in den 70er Jahren rausgekommen, hat aber keine Illustrationen. Inzwischen ist sie vergriffen.“ Der Antiquar nimmt eines seiner Eier genauer unter die Lupe, es zeigt violette Verfärbungen. Er prüft das Innere und sagt dann: „Aha, das sind anscheinend die übriggebliebenen gefärbten Eier von Ostern, aus dem Supermarkt.“ Der junge Mann ihm gegenüber schiebt den halbvollen Teller von sich und sagt in leicht gebrochenem Deutsch: „Das Ei ist schlecht, es ist schon ganz grün!“ Der Antiquar sagt in väterlichem Tonfall: „Nee, das ist nicht schlecht, das dachte ich erst auch, aber es ist nur Farbe, lebensmittelecht. Wenn die Eier beim Färben Risse haben, dann sickert sie nach innen, deshalb.“ Der junge Mann lächelt schief, um das Fehlen des rechten Eckzahnes zu kaschieren, stochert im Eigelb herum und klagt: „Aber es stinkt!“ Fréderic nimmt den Teller, schnuppert und sagt, ihn zurückreichend: „Ja, stinkt, stinkt nach Furz. Harte Eier riechen immer nach Schwefel. Jetzt sei brav und iß auf, sonst mußt du an die Front!“ Der junge Mann nimmt den Teller und ißt.
Vertraulich beugt sich der Antiquar zu mir und erzählt: „Der geht auch zu Molly Luft, übrigens, aber selten, das Geld fehlt ihm. Er heißt Milowan, ist bosnischer Serbe und seit dem Krieg damals in Deutschland. Deserteur soll er sein. Er hat uns alles mal genauer erzählt, vor Monaten schon, lange vor dem Kreig. Er hat behauptet, der Vater ist erschossen worden, von kroatischen Heckenschützen, seine Verwandten sind fast alle vertrieben worden und tot. Nur die Schwester und die Großeltern leben noch. Der Großvater war Partisan. Und nun bedenke mal. Das ist alles vollkommen in Vergessenheit geraten, was die Vergangenheit anbetrifft. Interessiert auch keinen, ihn auch nicht. He, Milowan, erzähl doch mal von deinem Wohnheim, wie du da lebst, hier, die Gabriele, die schreibt über solche Sachen.“ Milowan fährt sich mit der Hand durch seinen üppigen schwarzen Schopf und fragt, mich ansehend: „Was willst du wissen, wie ich da wohne? Das ist ein Zimmer, ein kleines Zimmer in einem Container, der auf einem anderen Container steht. Drumrum ist eine ganze Containersiedlung, das ist das Flüchtlingsheim. Da ist es laut, durch die Wand hörst du jedes Wort. Im Zimmer wohne ich mit einem Russen. Doppelbett, zwei Stühle, Tisch, Spind, fertig. Mehr Platz ist nicht im Zimmer. Pro Mann und Bett kostet das 600 Mark im Monat. Das bezahlt das Amt, ich weiß nicht an wen, wem das gehört, die ganzen Container. Das ist ein sehr gutes Geschäft für den Mann. Und da leben alle durcheinander, auch Familien mit Kindern, Afrikaner, Araber, Algerierer, Serben, Russen. Albaner auch, die sind schon lange da. Wir reden mit denen nicht, sie hassen uns, und sie handeln mit Drogen! Jeder weiß das, auch die Heimleitung. Die UÇK-Leute kommen ins Heim, und die jungen Männer schreiben sich in die Listen ein, sie werden in den Kosovo gehen und kämpfen. Wer nicht will, der kauft sein Leben frei, für 500 Mark. Das habe ich selbst gehört. Das sind die Albaner. Und die Afrikaner, die sind immer in der Küche, Tag und Nacht.“
Alle Blicke richten sich auf einen Schwarzafrikaner am unteren Tischende, man hat ihm den Spitznamen „Kamerunbanane“ gegeben, was in entspannten Zeiten durchaus gutmütig gemeint war, nun aber, wo es an den Futtertrögen strapaziöser zu werden scheint, klingt bereits ein warnender Unterton mit. „Warum müßt ihr Neger denn nachts noch kochen, wenn ihr euch tagsüber bei uns den Bauch vollschlagt“, fragt ein Dicker in frozzelndem Tonfall, und der Angesprochene antwortet im selben Ton: „Weil wir Neger gerne gut essen ...“, er rollt mit den Augen, schürzt die Lippen und fügt knurrend hinzu: „MENSCHENFLEISCH!“ Alle lachen, die Stimmung wirkt entspannt.
Der Antiquar kommt auf sein Lieblingsthema zurück: „Du, Milowan, was ist mit Molly Luft, da gehst du doch ab und zu hin“, zu uns gewandt verrät er süffisant: „Ganzkörpermassage mit Öl, bei der Tochter, für 50 Mark.“ Milowan lächelt sehr verlegen und sucht nach Worten: „Für die Seele ist das ...“ Die Tischgesellschaft lacht mehr oder weniger dreckig, bis auf den Neger, der mit unbewegtem Gesicht ein Ei zerteilt. „Und woher kommt das Geld, na, gehste schwarz arbeiten oder was?“, fragt der Dicke in nunmehr schärferem Tonfall. Aber Milowan scheint das zu überhören und erklärt bereitwillig: „Sie geben uns Gutscheine aus, Einkaufsgutscheine ... Und da gibt es diese Leute, die kaufen die Scheine, also für einen Gutschein über 60 Mark zum Beispiel, bekommst du 50 Mark Bargeld. Das machen fast alle so, überall, nur die Familien benutzen ihre Gutscheine, weil sie die Lebensmittel und alles brauchen können, so ist das ...“ Der Dicke brummt ärgerlich und scheint sich die Vorgänge eine Weile im Kopf zurechtlegen zu müssen. Dann ruft er unvermittelt aus: „Wenn's nach mir ginge, euch alle würde ich zurückschikken! Und dich zuallererst! Du bist doch ein Serbe, oder nicht? Euch haben wir den Krieg zu verdanken, und ihr lebt hier auf unsere Kosten!“ Der Antiquar bemerkt kichernd: „Besonders auf deine Kosten, ja, du bist schon völlig unterernährt.“ „Reiz mich nicht!“, sagt der Dicke, nimmt seinen Teller und geht.
Die übrigen halten sich zurück und denken sich ihren Teil. Milowan ist stark verunsichert und erklärt: „Ja, ich bin Serbe, aber aus Bosnien bin ich. 1991 haben sie mich eingezogen, zum Militär, ein Jahr war ich da, dann bin ich abgehauen, ich wollte nicht kämpfen und Leute totschießen. Aber das war vielleicht ein Fehler. Mein Vater ist erschossen worden, von Heckenschützen. Vorher hat er in einer Keramikfabrik gearbeitet, die ist auch kaputtgeschossen worden. Meine Mutter hat sich vor vier Jahren umgebracht ... Mit Essig.“ Der Antiquar assistiert: „Nee, Salzsäure heißt das.“ „Ja“, fährt Milowan fort, „sie hat Salzsäure getrunken. Sie hatte nur wenig Geld. Leute haben zu ihr gesagt: ,Was denn, du willst Geld? Dein Sohn ist doch in Deutschland, der ist reich. Er soll dir Geld geben!‘ Aber ich bin nicht reich geworden in Deutschland.
Mein Geld habe ich dem Großvater geschickt. Er wollte nicht, daß ich nach Deutschland gehe, er hat gesagt, es bringt Unglück. Mein Großvater liebt Tito. Er sagt, unter Tito, da gab es Einigkeit, es war kein Haß und kein Brudermord, alle hatten Arbeit, Brot, Frieden und Freiheit. Jugoslawien war das beste Land der Welt! Mein Großvater ist Serbe, aber liebt Miloevic nicht. Am Telefon sagte er, Tito hätte sie alle erschießen lassen, Tudjman, Karadic, Miloevic, alle Verräter! Ich liebe Miloevic auch nicht. Er kommt von der Geldseite, weißt du“, erklärt Milowan, zum Antiquar gewandt, „er war Bankdirektor vorher, Herr Slobodan Miloevic.“ Der Antiquar sagt: „Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Vranitzky, Elisabeth, der war doch auch Bankdirektor, stimmt's?“ Elisabeth bestätigt das. Doch Milowan läßt sich nicht ablenken und fährt fort: „Miloevic, das ist eine Mafia. Die Frau hat 50 Geschäfte, die Tochter hat Rundfunkstationen, der Sohn auch und dazu hat er noch eine Tankstelle, ein Café, Geschäfte und jeden Monat eine andere Frau! Er ist reich geworden, weil er der Sohn ist. Titos Sohn kam damals, weil er reich werden wollte, ins Gefängnis.“
Einer, der bis jetzt geschwiegen hat, ein gebräunter, sehr gepflegt wirkender Mann, vom Antiquar mit dem Spitznamen „der Beamte“ versehen, meldet sich barsch zu Wort und sagt: „Das ist doch gar nicht der Punkt, was Miloevic privat macht, der Punkt ist, daß er die Bevölkerung im Kosovo dahinschlachtet und vertreibt, du siehst doch jeden Abend diese Bilder im Fernsehen, oder nicht!“ Milowan rechtfertigt sich: „Ich gucke die ganze Nacht, ich weiß das. Aber was das Fernsehen nicht sagt, es sind auch viele Serben vertrieben worden, damals. Da waren alle zufrieden in Europa. Und heute werden auch Serben vertrieben aus Kosovo, nicht so viele, aber die UÇK schießt schnell.“ Der „Beamte“ erhebt sich mit entnervter Miene: „Ich höre mir das nicht an! Immer dasselbe, ihr redet euch raus, ich unterhalte mich mit dir erst wieder, wenn du die Wahrheit zugibst.“ Damit geht er.
Milowan schaut hilfesuchend zum Antiquar und zu uns und sagt bedauernd: „Eine Wahrheit weiß ich selber nicht. Ich weiß, daß die Nato heute bombardiert. Das ganze Land wird kaputtgemacht, aber leider nicht Miloevic. Der lebt, er hat Blumen auf dem Tisch. Mein Großvater sagt am Telefon: ,Es hat nicht angefangen mit Slowenien, Kroatien, Bosnien, es hat angefangen 1987 mit dem Verrat an Ivan Stambulic, und wie hat Miloevic das gemacht? Er hat gesagt, die Albaner sind unsere Feinde, gefährliche Feinde. Sie haben viele Kinder, vier, fünf, sechs Kinder und noch mehr. Und warum? Die Albaner haben so viele Kinder, weil sie uns Serben kaputtmachen sollen. Serben haben nur zwei oder drei Kinder. Die Serben werden von den Albanern umgebracht werden. Miloevic hat gesagt, die Albaner vergewaltigen und töten in Kosovo serbische Frauen. Und Ivan Stambulic hat schuld, er macht dagegen nichts. Das waren alles Lügen! Aber Stambulic mußte weggehen, und Miloevic war erster Mann. Miloevic ist ein Faschist. Das sagt mein Großvater, das sage ich und noch viele ... ein Verräter, der trägt die Schuld am Krieg, er und seine Leute ...“ Einer älteren Frau, die schon die ganze Zeit über mit allen Anzeichen der Mißbilligung gegessen hat, brüllt in breitem Berlinerisch: „Schnauze jetzt, ihr Männer mit eurem Kack. Kriech immerzu, det kotzt mir an! Ick möchte hier in Ruhe fressen, sonst nüscht!“
„Richtig so!“, ruft die zahnlose Mutter, die gerade mit Bollweber und einem schwankenden alkoholisierten Trinker den Raum betreten hat. Milowan und der Schwarze erheben sich und verlassen gemeinsam das Gefechtsfeld. Bollweber läßt sich auf dem vom Antiquar freigehaltenen Stuhl nieder und fragt: „Dicke Luft, was?“ „Wir haben über den Krieg gesprochen“, erklärt der Antiquar. Bollweber winkt ab: „Über den Krieg kann man nicht sprechen, das ist unmöglich. Kriege werden geführt, und wir haben da nichts mitzureden. Schluß! Gebt mir doch bitte mal den Tee rüber.“ Die zahnlose Mutter schenkt ihm zierlich ein, woraufhin er mit einer leichten Verbeugung des Oberkörpers formvollendet sagt: „Danke, Madame. Tee öffnet das Herz, Kaffee aber schließt das Herz. Merken Sie sich das.“ Der Kleine zieht seine Camouflageuniform zurecht und schimpft beim Hinausgehen: „Dieser Durchgang hier muß immer frei sein. Das ist ein Fluchtweg im Brandfall!“ Bollweber schaut ihm hinterher und schüttelt den Kopf: „Was hat er denn? Ich sage ja, Kaffee schließt das Herz!“ Die zahnlose Mutter schlägt sich auf die flache, magere Brust und erklärt: „Ich jedenfalls, ick habe keen Herz!“ „Aber doch wenigstens ein ganz kleines, aufblasbares, vielleicht?“, fragt Bollweber gütig. „Nee!“, versichert die zahnlose Mutter amüsiert.
Den neu eingetroffenen Gästen bringt man dampfende volle Teller. Die zahnlose Mutter bietet Bollweber zwei ihrer Eier an, der sie gerne nimmt. „Sie haben ja doch ein Herz!“, sagt er munter, „das ist gut, denn wer kein Herz hat, wird erschossen!“ Der Alkoholiker läßt die Gabel fallen und sagt, mit etwas schwerer Zunge: „Du und Schießen, du Pfeifenheini! Warst du überhaupt beim Bund? Ich habe meine Grundausbildung gemacht, ist das klar?!“ Bollweber hebt die Brauen und erwidert gelassen: „Ja, ja, wir wissen Bescheid. Strammstehen und dergleichen Mätzchen. Das ganze Leben ist eine Grundausbildung, für die Buchhaltung, fürs Belegbuch, für Untertanen mit leichtem Gepäck. Alles in Mikro: Mikroprozessoren, Mikrowellen, Mikrogehirne.“ Der Alkoholiker starrt ihn einige Sekunden schweigend an und stößt dann hervor: „Du! Würdest du die Knarre ziehen, würdest du dem Feind das Hirn rauspusten? Du, ich frage dich!“ „Nie!“ entgegnet Bollweber sanft, ein Ei verschlingend. Sich an die Tischrunde wendend, ruft der Aggressive aus: „Seht ihr, das habe ich ihm gleich angesehen, daß der ein Angeber ist, ein Schlaffsack und kein Soldat. Ich war Soldat: Ich habe das Töten gelernt. Meine Kameraden stehen immer noch hinter mir, die ganze Kompanie!“ Bollweber fragt beiläufig: „Ja wirklich? Alles Alkoholiker, wie du?“ Der zutiefst Beleidigte schiebt seinen Stuhl mit den Kniekehlen zurück und röhrt, mit der Gabel fuchtelnd: „DU! DU! Du bist ein Arschloch! Paß auf, was du sagst, sonst mache ich dich alle! Ich habe das Töten gelernt, sag' ich dir!“
In diesem Moment allerhöchster Spannung fliegt die Tür auf. Herein tritt der Radfahrer im Trapperlook, mit Pelzmütze, Wildlederjacke und Wildlederstiefeln. Er hält in der Rechten eine leuchtfarbene Wasserpistole, macht einen Ausfallschritt, bespritzt uns unter Kriegsgeheul und tänzelt davon. Dem Alkoholiker tropft das Wasser von der Backe. Er ist zu verwirrt, um sich zwischen zwei Gegnern für einen von beiden entscheiden zu können. Ergeben wischt er sich das Gesicht und sagt in weinerlichem Tonfall: „Ihr wißt ja gar nicht, was los ist. Mein Bruder ist da unten im Einsatz. Er fliegt die Kampfeinsätze mit, Nacht für Nacht.“ Bollweber hat eine Zeitung aufgeschlagen und murmelt, ohne den Blick von der Seite zu heben: „Selber schuld.“ „Die haben sich freiwillig gemeldet, keiner wurde zwangsverpflichtet“, fügt der Antiquar hinzu und bringt damit den gerade Abgekühlten wieder in Rage. Mit einer umfassenden Handbewegung ruft er aus: „Der opfert sich für sein Vaterland und für solche Ratten wie euch, damit ihr eure faulen Ärsche in Sicherheit ausruhen könnt, so ist das nämlich.“ Der Radfahrer, der mit einem vollen Teller am unteren Tischende Platz nimmt, sagt in der ihm üblichen Lautstärke: „Das sind doch alles Geisteskranke und Perverse. Die, die Leute vertreiben und massakrieren genauso wie die, die Bomben und Raketen auf Häuser und Menschen runterwerfen.“
Mehrere Betreuer, herbeigerufen vom Lärm, treten näher und versuchen, mit teils beschwichtigenden, teils strengen Worten, die Atmosphäre zu normalisieren. Niemand fragt, worum es geht. Der Alkoholiker, der als einziger steht, wird an den Schultern zum Ausgang geführt. Anklagend zeigt er auf die Tischrunde und ruft aus: „Von den Pennern da kann keiner töten und kämpfen wie ein Mann! Aber mir ein paar Bierchen vorwerfen wollen, die feinen Herrschaften, das hat man gern!“ Fréderic als ehemaliger Fremdenlegionär hat das Spektakel schweigend und mit undurchdringlicher Miene betrachtet. Bollweber streicht sich über die Stirn und fragt: „Gibt's noch Tee?“ Es gibt jedoch keinen Tee mehr, und die ehrenamtlichen Helfer bitten darum, den Tisch zu räumen und draußen weiter zu plaudern. Man will Ordnung schaffen und sauber machen.
Im Garten finden sich alle wieder auf Bänken und Stühlen zusammen. Es ist wie im Sanatorium. „An den muß man einen Zettel machen mit der Aufschrift: ,Explosionsgefahr', schlägt Bollweber vor, und der Antiquar fügt hinzu: „So einen nehmen sie doch gar nicht bei der Bundeswehr.“ Bollweber lacht und sagt gehässig: „So einen nehmen sie nicht mal bei der BSR! Solche Leistungsschwachen will man nirgends haben.“ Er wendet sich fast ein wenig besorgt an Fréderic: „Was ist denn mit Ihnen, Monsieur, Sie sind ja so ruhig geblieben?“ Fréderic zündet sich einen Zigarillo an, bläst den Rauch in die Luft und sagt: „Höret se mal, ich hab' mir meinen Teil gedacht. Mit solchen Leuten, wo nicht mal ein bizzele von einer Ahnung haben, da rede ich gar nicht. So einer hat vielleicht mal eine Kaserne von innen gesehen, wenn's stimmt, mehr nicht. Ich hab' die andere Seite auch gesehen, damals im Algerienkrieg. Und ich habe die Invaliden gesehen, die Männer ohne Arme und Beine, oder nur noch mit einem Arm oder Bein, wie sie stundenlang gewartet haben in einer langen Schlange. Der Krieg ist schrecklich.“
Ella kommt mit zwei Taschen voller Tulpen und, wie stets, in Begleitung ihres struppigen Hundes. Sie hat nur den letzten Satz gehört und sprudelt hervor: „Ja, nicht? Jeden Abend diese Bilder von den armen Menschen! Besonders leid tun können einem ja die Kinder. Ich hab' schon überlegt, ob ich von meinem bißchen Geld was spenden soll, aber ich brauch's ja noch für meine dreizehn Igel, die ich pflege, ich kann sie ja erst nach den Eisheiligen auswildern, sonst erfrieren sie mir noch, und die ganze Mühe war umsonst. Paßt doch bitte mal auf meine Taschen auf, ich muß mal kurz rein.“ Der Radfahrer umspringt sie und schießt aus einem vollkommen verborgenen Lauf im rechten Winkel an ihr vorbei. „Nichts für ungut“, brüllt er, „ick habe meine Waffe unbrauchbar gemacht und kann nun Frieden stiften. Entschuldigen Sie bitte, meine Damen und Herren, treten Sie einen Moment zur Seite, ich will hier ein Grab ausheben!“ Er lacht kreischend und hüpft davon. Unauffällig zeigt der Antiquar auf einen alten Mann mit stark schuppendem Ekzem im gebräunten Gesicht. Unter dem Wintermantel trägt er schmutzige hellblaue Hosen, und in seinen Schuhen geht er barfuß. Das auffallendste an ihm ist die Papierkrone auf dem Kopf, sie stammt von „Burger King“. Ihr verdankt er seinen Spitznamen. „Schaut, da kommt der König von Spandau!“ verkündet der Antiquar, erfreut darüber, daß es heute so turbulent zugeht. Der König von Spandau lüftet die Krone: „Ich bin doch euer guter, alter SS-Gruppensturmführer, liebe Untertanen, erkennt ihr mich denn nicht?“ Bollweber droht mit dem Finger: „Na, na! Hier sitzen lauter Antifaschisten, keine Provokationen bitte.“
Der König von Spandau öffnet den Mantel, zieht sich die rutschende Hose hoch, blinzelt nervös und sagt, in dem ihm eigenen krächzenden Hochdeutsch: „Führer befiehl, wir folgen dir! Aber mal im Ernst, Genossen, mit solchen Dingen spaßt man nicht. Ich bin euer guter, alter Partisanenführer. Ihr könnt ,du‘ zu mir sagen ... Und hier ist mein treuer Partisanenwolf!“ Er tätschelt kurz Ellas struppigen Hund, der mit rotem Halstuch und ein wenig überernährt dasteht und wedelt. „Gott zum Gruße! Ich wollte euch eigentlich etwas fragen, eine technische Frage, zur Leica. Man sagt das so leicht dahin: ,Die Leica ist eine der besten Kameras‘. Ich habe eine alte Leica. Ein bißchen stimmt das schon, aber ich bezweifle sehr, daß die Optik wirklich so gut ist wie behauptet. Zum Rand hin läßt das Objektiv, jedenfalls was die Schärfe betrifft, zu wünschen übrig; immer schon. Diese Unschärfen, die kriege ich nicht weg. Und nun frage ich mich, wenn die Leica tatsächlich so eine gute Kamera ist, weshalb bauen sie dann immerzu eine neue? Und meine Frage an euch lautet: Was ist eine Mehrfeldbelichtung? Was soll das sein?“, er schaut erwartungsvoll in die sprachlose Runde. Niemand sagt etwas. Glücklicherweise kehrt Ella zurück, streichelt ihr „Wölfi“ und beginnt dann großzügig die mitgebrachten Tulpen zu verteilen: „Nehmt, sie halten noch mindestens eine Woche. Ich habe sie von der Blumenfrau am Alex geschenkt bekommen.“ Der König von Spandau lehnt unwirsch ab, er wartet immer noch auf Antwort: „Nun sagt doch mal, was ich unter einer Mehrfeldbelichtung zu verstehen habe?“ Bollweber stöhnt verzweifelt auf und ruft: „Ja, bin ich denn hier auf der Geschlossenen?!“ Der Antiquar lacht und sagt mit amüsiertem Gesichtsausdruck: „Ach, hört mal, was ich euch zum Thema Krieg noch kurz erzählen möchte, unlängst hat ein Fünfundsiebzigjähriger, ehemaliger deutscher Kriegsteilnehmer, in Paris einen Schinken zurückgegeben. An die Frau, der er damals einen Schinken gestohlen hatte.“
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