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Ereignis mit Nachricht  ■   Von Thomas Gsella

Vor dreißig Jahren schrieb der Philosoph und Ethnologe Pierre Bourdieu ein Buch über die kabylische Gesellschaft, und darum weiß ich, daß kabylische junge Männer, wenn sie sich schon ziemlich stark fühlen, auf den Dorfplatz gehen, die Arme vor der Brust verschränken, den linken Fuß nach Süden ausrichten und sagen: „Auch ich habe jetzt einen Schnurrbart!“ Viel bringen und den machtgewohnten Alten bange machen tut das eher nicht. „Die Barthaare des Hasen sind nicht so lang wie des Löwen“, antworten die gewitzten Großväter den frechen Enkeln, wackeln mit den Ohren und lassen drei Zapfen Speichel aus den Lefzen stalaktiten – eine recht subtile Kasuistik oder jedenfalls gemeine Art, ihre tatterigen Borstenköpfe auch weiterhin in die erste Reihe zu halten, abends beim Feuer zum Beispiel, wo die Jungen sich mit mindestens fünf Jahren supergenervt angucken, wenn die ollen Greise wieder mal graupensuppengraue Kabylkamellen und Mythen runterrezitieren, bis alle Kabylesen unter siebzig eingeschlafen sind und von Las Vegas träumen. Schönes, armes, zwiespältiges Kabylien!

In prowestlichen Gemeinwesen hingegen, der aufmerksame Leser ahnt es schon, verhält es sich um 180 Grad umgekehrt. Hier gehen junge Männer, kaum steht die Sonne hinter den Bergen, zusammen mit ihrer Freundin und ihrer Schwester in die Essener Crêperie & Kneipe „Foyer“ und setzen sich an einen Tisch, wobei sie darauf achten, daß die Haustür sich nicht in ihrem Rücken befindet. Während die Frauen neueste Schnittmuster austauschen, hebt der junge Mann die rechte Hand und hält die Finger so, daß die Kuppe des kleinen und des Ringfingers die Handinnenfläche berühren. Kurz darauf stellt eine dritte junge Frau mit langer Hose unterm weißen Lendenschurz drei Veltins auf den Tisch und spricht: „Möchten Sie die Speisekarte?“ An diesem Punkt macht die der Freundin untergeordnete Schwester ersten Grades eine abwehrende Geste, während der Mann in sein Jackett greift, dort etwas herausholt und vor sich auf den Tisch legt, dann beide Arme vor die Brust verschränkt, den linken Fuß nach Süden ausrichtet und sagt: „Bitte mal herkucken, meine Damen, auch ich habe jetzt ein Handy, das bedeutet, ich kann mobil anrufen und sogar kostengünstig Textnachrichten, sogenannte Kurzmitteilungen, verschicken und empfangen!“ Nach dieser Ansprache piepst dann tatsächlich das Handy, und auf dem Display erscheint der Text „Sie haben 1 Kurzmitteilung erhalten“. „Na, seht ihr!“ ruft der Mann den beiden Frauen zu. „Wie ich euch gesagt habe!“ Dann steht er auf und liest die empfangene Nachricht in stolzer Erregung laut vor, damit auch die übrigen Anwesenden es hören: „Hey ho, du supergeiler Ochse mit dem Ochsenpenis! Bin um 15 Uhr am HBF, bis gleich!! Stefan.“ Nach diesen Worten setzt der junge Mann sich wieder hin und spricht einige Vokabeln der Wortfelder „Fehlfax, Nummer verwechselt, Stefan kenn' ich ehrlich keinen“ usw., während seine Freundin und seine Schwester sich reziprok still in die Augen bohren, bis nach etwa zwei Minuten die Vokabel „Doppelleben“ fällt. „Das Wort“, sagt der Kabylese, „ist wie eine Gewehrkugel: es kehrt nicht zurück.“ Dies trifft auch für prowestliche Gemeinwesen zu.

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