■ Kommentar: Fundamentalistisches Russland
Der Krieg im Kaukasus eskaliert
Die russische Führung hat sich festgelegt: Tschetschenien ist danach ein Teil Russlands, die tschetschenische Regierung ein Haufen separatistischer Banditen. Mit ihnen zu verhandeln, hieße in die vorgeblich illegale Abtrennung des Landes de facto einzuwilligen, also Russland zu verraten. Politisches Ziel ist es daher, wieder die volle Kontrolle zu erlangen, was immer das unter den gegenwärtigen russischen Bedingungen heißen mag. Für die Moskauer Führung stellt sich damit die Überlebens- und die Machtfrage. Angesichts der bedrängten innen- und wirtschaftspolitischen Lage Russlands steht für Putin und Jelzin viel auf dem Spiel. Ihre Streitkräfte müssten aus dieser Perspektive unter allen Umständen siegen. Aber können sie es?
Auch die tschetschenische Seite ist nicht mehr frei in ihren Entscheidungen. Die russische Politik hat sie in Verpflichtungen hineingetrieben, aus denen sich auch die Tschetschenen kaum noch befreien können. Denn indem der tschetschenische Staatschef Maskhadow den „heiligen Krieg“ ausrief, appellierte er an die gesamtmuslimische Solidarität. Er wäre jetzt ein Verräter, würde er mit den Russen verhandeln. Seine Distanz zu den internen Rebellen um Bassajew, die versuchten, Dagestan zu erobern, ist nun bloß taktisch. Es mag richtig sein, dass die Tschetschenen und die meisten anderen Völker des Nordkaukasus sehr säkularisierte Muslime sind und die in Dagestan überwiegend Traditionalisten. Aber nun kann nur der fundamentale Islam noch die politischen Kräfte zusammenhalten; er wird nach der Befreiung den kaukasischen Völkern als Erziehungsterror gegenübertreten. Die russische Alternative ist hingegen ganz unmöglich. Wie können Kaukasier an der Einheit eines Landes festhalten wollen, in dem fast alle politischen Kräfte eine rassistische Pogromstimmung gegen Kaukasier und Muslime schüren.
Die EU versucht Kettenreaktionen zu verhindern. Mit solch einer Verhaltenheit wäre Algerien wahrscheinlich noch immer französisch, hätte man damals die heutigen Interpretationen verwendet. Natürlich ist die europäische Position vernünftig. Aber jede Diskussion über die Rolle der Moral in der Außenpolitik wird nun nicht nur Serbien und Indonesien, sondern auch das starke Russland mitbedenken müssen. Erhard Stölting
Der Autor ist Professor für Soziologie in Potsdam
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