: Do it your Selbsthilfe
Anfang der Siebzigerjahre gründete der New Yorker Konzeptkünstler Gordon Matta-Clark gemeinsam mit Freunden das Restaurant FOOD als Künstlertreff und Volksküche in SoHo. Jetzt wird die Geschichte des kochenden Kollektivs in Münster ausgestellt ■ Von Jochen Becker
Bei der letzten documenta war Gordon Matta-Clark als legendärer Typ mit seiner Fotoserie „Window Blow-Out“ von 1976 vertreten. Damals schoss er mit einem Luftgewehr die Scheiben des Institute for Architecture & Urban Studies zu Bruch und dokumentierte gleich darauf den Tatort. Nach der Frischluftaktion warf Peter Eisenman persönlich den gelernten Architekten hinaus. „Das sind die Leute, bei denen ich in Cornell studiert habe, das waren meine Lehrer. Ich hasse sie, wofür sie stehen“, kommentierte Matta-Clark die mitausstellende Architektenschaft von Richard Meier bis Michael Graves. Die zerstörten Fenster wurden sogleich erneuert.
Parallel zur documenta stellte die Wiener Kunsthalle der Generali-Kunststiftung Gordon Matta-Clarks grafisches Werkverzeichnis zusammen. Dafür wurden die Werkdaten seiner über 500 Zeichnungen „in das Kunstverwaltungsprogramm der Generali Foundation eingespielt“, wie es im Info heißt. Das Verzeichnis endet mit amorphen Fremdkörper-Skizzen „Immunes versus Cancer“ kurz vor Matta-Clarks Krebstod 1978. Da war er 35 Jahre alt. Nun gastiert die Ausstellung „Reorganizing Structure by Drawing through It“ in Münster: Pflanzenskizzen, Projektentwürfe, komplexe „cut drawings“ oder nachkolorierte Großfotos mit U-Bahn-Graffiti, die um 1973 gerade aufkamen. Unter Tüchern auf der Brüstung um den Lichthof des Westfälischen Landesmuseums herum liegen die lichtempfindlichen Skizzenbücher aus. Weiterhin lieh sich das Museum vierzehn in Wien restaurierte Filme von 1971 bis 1977 aus und übernahm den von Catherine Morris für das New Yorker White Columns kuratierten „Arbeitsraum“ zu FOOD – als „Porträt eines Restaurants“.
„Comidas Criollas“ steht zwischen zwei Pepsi-Logos auf dem alten Restaurantschild. Für ein späteres Foto wurde mit fettem Filzstift FOOD darübergeschrieben, um die Übernahme des spanischen Lokals zu markieren. So hieß die von Gordon Matta-Clark mitinitiierte Location ab 16. Oktober 1971. Auf einer Leiter balancieren zwei junge Menschen, einer sitzt auf einem Hydranten und schaut zu. Ein Stapel herausgerissener Holzbalken, ein Farbtopf sowie die blecherne Mülltonne zeigen, dass es mit den Renovierungsarbeiten vorangeht. Im Hintergrund sieht man einen VW-Bus, der in einer Straße mit Lofthäusern im New Yorker Stadtteil SoHo parkt. Hippiekultur und Pragmatismus geben sich in der 127 Prince Street Ecke Wooster den Schraubenzieher in die Hand. Für einen halben Dollar gibt's schon bald Suppe mit Brot, ein Dinner soll 3 Dollar kosten. Alkohol bringt jeder bitte selbst mit, heißt es auf dem Ankündigungszettel, der nun den Umschlag der Ausstellungsbroschüre ziert.
Die zahlreich präsentierten Fotos zeigen ein stets gut gefülltes Lokal. Man sitzt an einfachen Tischen um die halb offene Küche herum, deren riesige Dunstabzugshaube alles überragt. FOOD bot als soziales Zentrum des Viertels ein offenes Haus an, während andere KünstlerInnen sich wieder in ihre Privat-Lofts oder Institutionen verkrochen. Wo sonst konnte man Robert Rauschenberg den ganzen Tag lang Chili kochen sehen? Der Sonntag galt als „Tag des Gastkochs“, und auch für Mittellose gab es „raue Mengen von Essen“. Dessen Zubereitung war hier so etwas wie ein kreativer und bisweilen durchgeknallter Prozess, doch sollte keine Kunst entstehen. Rirkrit Tiravanijas Kochen für ein Vernissagepublikum ist von dieser Konzept-Volksküche weit entfernt.
In drei unvollendeten Filmen lässt sich „Ein Tag im Leben von FOOD“ betrachten. Bei den Aufnahmen des Dokumentaristen Robert Frank spielt vom Fischmarkt an der Fulton Street bis zur allmonatlich aus Vermont anreisenden Backkommune Madbrook-Farm auch die Lebensmittelbeschaffung sowie deren ökologische Zubereitung eine entscheidende Rolle. Im Szenemagazin Avalanche druckte man wunderbar detailbesessen einen Abrechnungsbescheid ab, der neben ausgeglichenen Bilanzen für viereinhalb Tonnen Brot auch 3.082 freie Dinners und zwei Rebellionen des Küchenpersonals auflistet. So war das damals in Kollektiven, bei denen im Frühjahr 1972 genau 84 Prozent KünstlerInnen arbeiteten. „Wir verteilten Geld in der ganzen Kunstwelt“, beschrieb Tina Girouard das Konzept. Doch FOOD war alles andere als profitabel: „Die Idee funktionierte als Idee“, so Caroline Goodden selbstkritisch. Und während die Fotografin ihr gesamtes Erbe in das Projekt steckte, um ein geschäftliches Unternehmen auf den Weg zu bringen, interessierte sich Gordon Matta-Clark für lebende Salzwassergarnelen oder Knochenmahlzeiten. Neben den beiden betrieben noch Tina Girouard, Suzanne Harris und Rachel Lew hauptverantwortlich den Laden.
Einen Namen machte sich der Dauerinitiator Gordon Matta-Clark auch über seinen frühen Tod hinaus. Während Renovierarbeiten zur Erweiterung des Restaurants entstanden die ersten Cuttings. Anfangs bockte er eine kleine Raumecke auf eine Tischplatte hoch. Die spätere Hausfassaden-Collage „Bingo“ beansprucht nun einen enormen, skulptural auftrumpfenden Platz und stellt sich quer zum Museums-Lichthof. Die drei hölzernen Fragmente mit angeschnittenen Fensterrahmen und sich abzeichnender Treppe stammen von einem Gebäude, das Gordon Matta-Clark 1974 „in neun Teilen weggenommen“ hatte. Der dazugehörige Film „Bingo/Ninth“ wird mit Blick auf den Lichthof gezeigt. Später weitete er diese Schnitte auf ganze Häuserblocks in Paris und Antwerpen aus und ging so als Konzeptkünstler in die Kunstgeschichte ein. Die derzeitige Präsentation kontextualisiert alle Projekte unter dessen Namen und würdigt somit seine Funktion als Antriebsriemen für kollektive Prozesse. Ohne seine Prominenz wäre es wohl nicht zu dieser Ausstellung gekommen. Doch auch namenlos gebliebene Figuren haben das einzigartige Projekte-Netzwerk betrieben, aufgesucht, befördert.
Schon 1969 initiierte Gordon Matta-Clark gemeinsam mit Jeffrey Lew den „112 Workshop / 112 Greene Street“. Er stellte hier seine „Walls Paper“ aus, deren Siebdruck-Reproduktionen von Tapetenresten an Abrissmauern später auch als Buch dokumentiert und nun in der Museumsbuchhandlung für 980 Mark angeboten werden. Einen Häuserblock neben FOOD wurden ausgreifende Ausstellungen, Performances und Konzerte durchgeführt. Robyn Brentano nennt „112“ das zu seiner Zeit „einzige sozialistische Kunstsystem in New York“ – einen Steinwurf von der Wall Street entfernt. Später ging daraus der nichtkommerzielle Ausstellungsraum White Columns hervor. 1972 initiierte Gordon Matta-Clark um die Ecke eine Ausstellung in einem dreigeteilten Bauschutt-Container, dessen offenes Dach mit Regenschirmen abgedeckt wurde. Während er ein Schwein grillen ließ, spielte Ted Greenwald per Tonbandaufzeichnung die tägliche Zeitungszustellroute ab, als Verweis auf Jobsituationen jenseits des Kunstbetriebs.
Avalanche dokumentierte die Ausstellungen, Performances, Veröffentlichungen und das Privatleben der Künstler, „deren Arbeits- und Lebens-Mittelpunkt 112 und FOOD waren“ (Catherine Morris). Jetzt ist die längst eingestellte Zeitschrift mitsamt ihren unveröffentlichten Unterlagen auch ein Archiv kollektiver Künstlernetzwerke. Im Arbeitsraum des Museums kann man auf Audiokassetten die alten Interviews abhören oder in kopierten Magazinausgaben herumstöbern. „Rumbles“ hieß die Klatschspalte, ansonsten bestand Avalanche aus Kunstanzeigen, KünstlerInnenbeiträgen und langen Gespräche mit den „Who-is-Who der Konzeptkunst“ (Catherine Morris). Die Coverstars reichten von Joseph Beuys bis Yvonne Rainer und dem Tanzkollektiv Grand Union. Das von Liza Béar und Willoughby Sharp 1968 bis 1974 betriebene Magazin berichtete nicht über, sondern aus der Community. Es war Kontext- und PR-Maschine zugleich.
Die „Pioniertage von SoHo“ mit ihrer postindustriellen Wissens- und Kulturarbeit in den ehemaligen Fabriketagen sind längst Vergangenheit. „Loft Living“ nennt sich ein aktuelles Buch über Yuppie-Wohnungen, SoHo hat sich zum Galerienviertel mit teuren Geschäften, Lokalen und Eigentumswohnungen gewandelt. „Hunger nach Veränderungen“ war laut Corinna Diserens der gesellschaftlich wie kulturell umfassende Antrieb für FOOD gewesen. Zehn Jahre später kennt man nur mehr den Hunger nach Bildern: War FOOD gar ein Vorläufer aktueller Kunst als „Dienstleistung“ oder nicht doch strukturbildende Maßnahme eines Gruppenzusammenhangs? Das Restaurant zumindest bot eine Bühne zur Selbstdarstellung zwischen Party & Politics, für Treffs und zum Projekteschmieden. Insgesamt 300 KünstlerInnen hielten sich dort mit flexibel einteilbaren Arbeitsplätzen finanziell über Wasser.
FOOD war selbst wiederum „Facette der Community“ (Catherine Morris) und Teil eines urbanes Netzwerkes, das vom Leben, Arbeiten und Ausstellen in Lofts über das Mitteilungsorgan Avalanche bis zur „urbanistischen Künstler-Denkfabrik“ Anarchitecture Group reichte. „Wir dachten mehr über metaphorische Leerstellen, Lücken, übrig gebliebene Räume und unbebaute Flächen nach“, so Gordon Matta-Clark. Inzwischen sind wieder Materialien der Anarchitecture Group aufgetaucht, so dass der Kokurator Markus Müller an eine Fortsetzung der Beschäftigung mit Matta-Clark denkt. Die Treffen der Anarchitecture-Group lösten FOOD als Think-Tank gewissermaßen ab, „irgendwann verspeiste uns das Lokal“ (Caroline Gooddens). Wann es denn genau zu Ende ging, steht in der Ausstellungsbroschüre nirgendwo. Immer nur Anfänge? Nach dem Fall der Mauer sind ähnliche Dinge auch in Berlins Mitte neu ausprobiert worden. Auf Nachfrage in Münster heißt es, dass das alte FOOD-Konzept spätestens 1975 abgeschlossen war. Es mündete in ein normales Restaurant und wurde Anfang der Neunzigerjahre zur Boutique. Das zumindest geht in der neuen Mitte spürbar rascher. Bis 2. 1. 2000. Landesmuseum Münster. Eine prima Broschüre zu FOOD gibt es für 10 Mark, der Katalog mit dem Werkverzeichnis aller Papierarbeiten kostet 98 Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen