: Solidarität ist der einzige Reichtum
Die Verfassung Moldawiens garantiert dem „Land der Gagausen“ einen weitgehenden Autonomiestatus. Seither ist Separatismus kein Thema mehr. Doch wirtschaftlich aufwärts geht es nur langsam ■ Aus Komrat Barbara Oertel
Dicht an dicht ducken sich die Gehöfte, Hexenhäuschen gleich, links und rechts der Hauptstraße. Gerade verschwindet ein Pferdewagen in einer Einfahrt. In Verchnaja Alberta scheint die Zeit stehen geblieben. Das Dorf mit 1.000 Einwohnern liegt im Zentrum Gagausiens, einer Region im Süden der Republik Moldawien. Angehörige von 14 Nationalitäten, darunter Polen, Russen, Ukrainer, Gagausen und Bulgaren, leben hier.
Auf einer Bank sitzen zwei Frauen über Eimer gebeugt und putzen Gemüse. „Davon leben wir im Winter“, sagt die Jüngere, die sich als Olga Katschkowa vorstellt. „Zu essen haben wir nur das, was bei uns wächst, etwas kaufen, das können wir uns nicht leisten“, sagt sie. Sie und ihre Familie seien Bulgaren, aber danach frage niemand. „Hier hilft einer dem anderen, wir haben immer friedlich zusammengelebt“, sagt Olga.
Solidarität ist der einzige Reichtum, den die Menschen hier haben. Bei oft monatelang nicht gezahlten Löhnen, Durchschnittsrenten von umgerechnet 8 Dollar und steigenden Preisen geht es vielen noch schlechter als zu Sowjetzeiten. Aber auch sonst ist der Alltag beschwerlich. Wie anderswo in Moldawien gibt es auch in Verchnaja Alberta Elektrizität nur im Vier-Stunden-Takt.
Olgas Mann Michail arbeitet als Traktorist auf einer Kolchose. Er habe seit fünf Jahren keinen Lohn mehr erhalten, erzählt er. Höchstens gebe es mal einen Sack Kartoffeln. Wie Wurst schmecke, hätten sie alle schon längst vergessen. „Und meinem Enkel, dem kann ich nicht mal ein paar Bonbons kaufen“, schimpft er. „Es ist eine Schande“, kommentiert Olga. „Aber Hauptsache“, sagt sie und blickt dabei die anderen an, „es kommt kein Krieg.“
Dem sind die Menschen in Gagausien, das zwölf Prozent des 33.700 Quadratkilometer großen Staatsterritoriums von Moldawien ausmacht und wo die Gagausen mit 175.000 Personen die größte Bevölkerungsgruppe stellen, Anfang der 90er-Jahre nur knapp entgangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die moldawische Regierung unter dem damaligen Premierminister Mircea Druc schon bewaffnete Freiwilligenverbände an der Grenze zu dem Gebiet aufmarschieren lassen, um die mehrfach per Volksentscheid dokumentierten Unabhängigkeitsbetrebungen der turksprachigen christlichen Gagausen notfalls mit Gewalt niederzuwalzen.
1992/93 häuften sich in Gagausien Anschläge auf lokale Polizeistationen und Behörden der Zentralregierung. Gleichzeitig nahmen die Regierung in der moldawischen Hauptstadt Chisinau und die gagausische Gebietsregierung Verhandlungen auf. Herausgekommen ist für Gagausien ein Autonomiestatus, den auch die moldawische Verfassung von 1994 garantiert. Danach verfügt Gagauz Eri (Land der Gagausen), so die offizielle Bezeichnung, als autonome Gebietseinheit innerhalb der Republik Moldawien über weitgehende Gesetzgebungskompetenzen in den Bereichen Kultur, Soziales und Wirtschaft. Sollte sich Moldawien an Rumänien anschließen, hat Gagausien das Recht zur Abspaltung. Das Gebiet verfügt über ein eigenes Parlament, die Volksversammlung, und eine eigene Regierung. Deren Chef, der so genannte Baschkan, ist automatisch Mitglied des moldawischen Kabinetts.
Anfang September fanden in Gagausien Wahlen statt. In der 35köpfigen Volksversammlung geben jetzt die unabhängigen Kandidaten den Ton an, die in ihrer Mehrheit eher national gesinnt sind. Die Kommunisten erlitten eine Niederlage und sind nur noch mit vier Abgeordneten in dem Miniparlament vertreten. Zum neuen Baschkan wurde Dmitri Krojtor gewählt, ebenfalls ein Unabhängiger, der als ein Mann der Zentralregierung gilt. Punkten konnte Krojtor mit halbliberalen Losungen. So versprach er, die Eigentumsform der Landwirtschaftsbetriebe, die in Gaugasien noch zu 95 Prozent staatlich sind, zu belassen, die Betriebe aber gleichzeitig zu entschulden.
„Die konservativen Gagausier haben sich entschieden, für eine Erneuerung zu stimmen. Zwar weder für eine radikale noch für eine revolutionäre, aber dennoch für eine Erneuerung“, schrieb denn auch die moldawische Wochenzeitung Molodjosch Moldovy (die Jugend Moldawiens).
Im Zentrum von Komrat, der „Hauptstadt“ Gagausiens, erhebt sich an der Hauptstraße ein grauer, rechteckiger, mehrgeschossiger Klotz. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der überdimensionierte Schuhkarton als Sitz des Parlaments. „Volksversammlung“ steht hier auf einem Schild – in drei Sprachen, Gagausisch, Russisch und Rumänisch. Überhaupt sind in Gagausien alle offiziellen Gebäude dreisprachig beschriftet. Im ersten Stock empfängt Petr Patschali zur Audienz. In dem spärlich eingerichteten Arbeitszimmer hängt ein Porträt des moldawischen Staatspräsidenten Petr Luschinski an der Wand, gleich daneben die Flagge Gagausiens. Am Fenster hat ein örtliches Fernsehteam Platz genommen.
Bis zu den Wahlen war Petr Patschali, Mitglied der kommunistischen Partei, Vorsitzender der Volksversammlung. Dann musste er seinen Platz räumen. „Die Gagausier sind keine Separatisten, sondern sie wollen friedlich mit den Moldawiern in einem Staat leben“, sagt er. „Unser jetziger Status stellt das Volk zufrieden. Seit der Einführung der Autonomieregelung haben wir endlich die Möglichkeit, etwas für die Entwicklung unserer Kultur zu tun.“
In der Tat: Obwohl Russisch in allen Bereichen immer noch die dominierende Sprache ist, haben die Gagausen aufgeholt. Gaugausisch ist mittlerweile obligatorisches Lehrfach, wenngleich der Unterricht auch noch nicht an allen 46 Schulen durchgängig in jeder Klassenstufe sichergestellt ist. Waren bis 1990 nur 33 Bücher auf Gagausisch erschienen, ist die Auswahl jetzt, nicht zuletzt durch Unterstützung aus der Türkei, reichhaltiger.
Doch vor allem drückt in Gagausien die schlechte wirtschaftliche Lage. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent. Zwei Teppichfarbriken und drei Textilfabriken stehen still. Doch von 12 Weinbetrieben, einem der Hauptproduktionszweige, sind immerhin sechs modernisiert. „Diese Betriebe produzieren jetzt jährlich 40 Millionen Flaschen jährlich. Vor der Autonomie waren das nur 3 Millionen Flaschen“, sagt Patschali.
„Früher ging es den Menschen hier besser“, sagt Afanassejew Fuschedschi. Den Bulgaren, der lange als Agraringenieur gearbeitet hat, ereilte das gleiche Schicksal wie Petr Patschali. Als Mitglied der Kommunisten flog er bei den Wahlen aus der Volksversammlung. Sicher habe es viele Gründe dafür gegeben, den alten Kurs zu ändern, meint er. Doch hätte man die Wirtschaftsbeziehungen zu den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht einfach zerstören dürfen, ohne an diese Stelle etwas Neues zu setzen. Nur in einem ist sich Fuschedschi sicher: „Die UdSSR wird es nicht wieder geben“, sagt er. „Was einmal war, kann man nicht wieder errichten.“
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