: Zoologie der Sportlerarten
Prof. H. Hirsch-Wurz
Der Homo loipicus, gelegentlich auch als Skilangläufer bezeichnet, gilt als äußerst scheu. Die meiste Zeit verbirgt er sich in Wäldern. Kommt er mal zum Vorschein, dauert es in der Regel nicht lange, bis er wieder im nächstbesten Unterholz verschwunden ist. Damit er schneller abhauen kann, wenn ihn ein menschliches Auge erblickt, hat er sich schmale Bretter untergeschnallt, auf deren Fußhabung er sich vorzüglich versteht, es sei denn, er hat verwachst.
Damit er schneller abhauen kann, hat der Homo loipicus Bretter untergeschnallt
Der bevorzugte Lebensraum des Homo loipicus ist der Schnee, weshalb er im Sommer gern auf hohe schneebedeckte Berge klettert oder irgendwo im ewigen Eis herumkraucht, wo er dann so lange als verschollen gilt, bis es in den Breiten seiner meist mittel- oder nordeuropäischen Heimat wieder so kalt geworden ist, dass er die Rückkehr wagen kann.
Dann geht er sofort daran, aufs Neue mit ausladenden Schritten die Forste des Nordens unsicher zu machen, und wenn jeder andere an seiner Stelle längst eine gemütliche Kneipe aufsuchen und es sich bei einem Gläschen Glühwein vor dem Kaminfeuer gemütlich machen würde, rümpft der Homo loipicus nur die abgefrorene Nase und raunt: „Die fünfzig Kilometerchen bis zum nächsten Fjord schaffen wir noch locker.“ Endlich dort angekommen, hackt er ein Loch ins Eis, nimmt ein erfrischendes Bad und trinkt einen halben Liter Salzwasser.
Gemeinhin ist der Homo loipicus ein Eigenbrötler und wie sein Bruder im Geiste, der Homo aquilensis oder Skispringer, äußerst schweigsam. Umso lauter sind seine Anhänger, zumindest, wenn sie aus Norwegen stammen, ihre Kuhglocken dabeihaben und schon morgens so betrunken sind, dass sie nicht merken, wie ihnen auf der Tribüne langsam der Hintern zufriert. Ebenfalls weniger schweigsam sind die Fernsehkommentatoren, die das geheime Treiben des Homo loipicus begleiten und glauben, dass sie ganz allein den mangelnden Enthusiasmus der restlichen Welt für diese Sportart zumindest akustisch wettmachen müssen.
Tatsächlich ist die einzige Möglichkeit, einen gründlicheren Blick auf den Skilangläufer werfen zu können, eine Fernsehkamera auf ihn zu richten und ihn in Großaufnahme auf die Mattscheibe zu zoomen.
Dem scheuen Langläufer ist das sehr unangenehm, und zwar zu Recht, denn so können alle sehen, dass die malerischen Eiszapfen, die ihm aus der Nase wachsen, nichts als Rotz darstellen, seine Haare strähnig am Kopf festgefroren sind und seine Wollmütze keineswegs den letzten Schrei der Jugendkultur darstellt, sondern vom Urgroßvater geerbt ist. Nein, er gibt keine sonderlich attraktive Erscheinung ab, der Homo loipicus, wie er da mit zusammengebissenen Zähnen durch Wald und Flur stampft, ohne nach links oder rechts zu blicken, und aussieht wie ein durchgeknallter Yeti im Skiurlaub.
In Wahrheit aber ist der Skilangläufer oft ein sehr angenehmer Mensch und tief im Innern ein aufrechter Demokrat, weshalb er IOC-Präsidenten und andere hohe Funktionäre verabscheut und ihnen ihre teuren Mäntel wegnehmen will. Hin und wieder wird der Fomo loipicus auch etwas wunderlich. Dann nennt er sich Juanito, gerät zum Spanier, säuft Weihwasser, fühlt sich von Hexenmeistern verfolgt, verehrt seine Putzfrau und fühlt sich bei alledem sauwohl.
Die große Schwäche des Homo loipicus ist das Edelmetall. Um goldene oder silberne Medaillen zu erhaschen, schließt er sich kurzfristig größeren Herden an und liefert sich erbitterte Duelle mit seinen Artgenossen, die häufig in Ohnmacht, Weinkrämpfen oder Dopingsperren enden. Daher auch das alte Sprichwort „homo homini loipus“, das der antike Philosoph Plautus Nordicus im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nach einem Besuch am Holmenkollen prägte. Es hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt.
Der Autor ist ordentlicher Professor für Human-Zoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen. (Wissenschaftliche Mitarbeit: Matti Lieske)
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