MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHENVON KOLJA MENSING: Das Wort
Als Bret Easton Ellis auf einer Lesereise in Deutschland seinen Roman „Glamorama“ vorstellte, musste er sich in Berlin auch einen Abend lang bei einer öffentlichen Veranstaltung mit einem Literaturredakteur unterhalten. Der Redakteur sagte, dass man in Deutschland zur Zeit gerne Popliteratur lese, und fragte Ellis dann, was er denn als amerikanischer Popliterat davon halte. Bret Easton Ellis sah das Publikum mit unruhigem Blick an. Dann sagte er: „Popliteratur? Das Wort habe ich noch nie gehört.“
Die Zeit
War nicht gerade noch Sommer? Haben wir nicht gerade erst „Matrix“ im Kino gesehen? Und später zu Hause vor dem Fernseher auf das Video zu „Along Comes Mary“ gewartet? Und wann war das noch mit der Sonnenfinsternis – wir hatten alle diese Brillen auf und haben eine halbe Stunde lang in die Sonne gesehen . . . „Matrix“, Bloodhound Gang, was du willst, der ganze Sommer 1999 ist in diesem Roman schon drin: „staring at the sun“ ist das schnellste Buch in diesem Frühjahr, geschrieben hat es Jan Drees, 20 Jahre, Schüler aus Wuppertal.
Es geht um Dennis. Dennis ist 18, Schüler und verdient am Computern etwa so viel Geld wie ein 20-jähriger Jungschriftsteller. Darum kann er sich auch ganz okay anziehen: Armani-Jeans, zum Beispiel, ein Hermés-Lederhemd und Bally-Boots. Das erfährt man sehr genau: Bevor Dennis aus dem Haus geht, erklärt Jan Drees den Lesern, was Dennis für Kleidung trägt. Spätestens wenn er dann in irgendeinem Club beunruhigt einen Freund mustert – „Ben, der in seiner grauen Stoffhose mit Bügelfalten von Masakï Matsushïma und einem weißen Hemd von Jil Sander neben mir sitzt“ – schlägt das Markenbewusstsein allerdings wieder um in mangelndes Selbstbewusstein.
Man kennt dieses spätbürgerliche Dilemma aus den Schriften der Frankfurter Schule und aus den Achtzigerjahre-Romanen wie „Unter Null“ oder „American Psycho“, und auch Dennis informiert sich: „Ich habe mir aus der Stadtbibliothek Bret Easton Ellis geholt und Horkheimer, Adorno.“ Das ist sozusagen Dialektik.
American Psycho und Wuppertal, Adorno und Sex, Jil Sander, Gucci und die Matrix: „staring at the sun“ ist manchmal so schnell, das einem dieses hektische Durcheinander gar nicht auffällt, und das macht Spaß. Und manchmal, wenn das Buch so schnell ist, das man gar nicht mehr mit kommt, dann macht es einen sogar melancholisch: „This is the game that moves as you play“, eine Zeile aus einem Punksong, hatte Bret Easton Ellis seinem ersten Roman „Unter Null“ als Motto vorangestellt. War man nicht gerade noch 20? War nicht gerade noch Sommer?
Jan Drees: „staring at the sun“. Salt and Pepper, Frankfurt am Main 2000. 111 Seiten, 21 DM
Die Frau
Im 18. Jahrhundert wurde man unter anderem auf die Gefahr aufmerksam, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen das emanzipatorische Potenzial der Literatur nutzen könnten. Also begannen die Büchermänner damit, eine Lesepädagogik für ihre Bücherfrauen zu formulieren. Goethe zum Beispiel schrieb in dieser Angelegenheit schon mit 16 Jahren ein paar grundsätzliche Sätze an seine Schwester Cornelia: „Nimm Dir ein Stück nach dem anderen, in der Reihe ließ es aufmerksam durch, und wenn es dir auch nicht gefällt. Du mußt Dir Gewalt antun.“
Gertrud Lehnert hat jetzt in einem dekonstruktivistisch angehauchtem Essay nachgezeichnet, wie aus der aufgeklärten Lesepädagogik im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert ein neuer literarischer Typus entstand: die Leserin. Die Befürchtung, dass „Frauen ohne ästhetische Distanz lesen ... und glauben, ihr Leben müsse ebenso wie das der Romanheldinnnen aussehen“, findet sie in Romanen wie Jane Austens „Die Abtei von Northanger“ ebenso wie in Gustave Flauberts „Madame Bovary“ oder in Antonia Byatts „Besessen“. Erst in Patrica Dunckers „Die Germanistin“ sieht Gertrud Lehnert die Leserin dann als literarische Figur emanzipiert – nicht mehr der Text verführt die Leserin, sondern die Leserin den Text. Das, so könnte man den Untertitel des Essay verstehen, ist dann das wahre „erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur“.
Nicht so schön ist, dass Gertrud Lehnert ganz nebenbei ihre eigene Lesepädagogik formuliert: Bei Hera Lind ist dann Schluss mit der Dekonstruktion, und man erfährt, dass die neue deutsche Frauenliteratur nur Unterhaltungsromane hervorgebracht hat, die „das kritische Bewusstsein völlig einlullen“. Vor lauter Aufregung hat Gertrud Lehnert für die wahrste aller wahren Leserinnen nur eine Fußnote übrig: Matilda, die Heldin aus Roald Dahls gleichnamigem Kinderbuch. Matilda hat schon mit vier Jahren alle Kinderbücher in ihrer Stadtteilbibliothek durchgelesen und macht sich jetzt an die Erwachsenenliteratur. Gewalt tut sie sich nicht an: „Herr Hemingway schreibt vieles, was ich nicht verstehe“, erklärt Matilda der Bibliothekarin, „besonders über Männer und Frauen. Aber es hat mir trotzdem gefallen.“
Gertrud Lehner: „Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur“. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 127 Seiten, 24 DM
Die Natur
Das ist der Moment des Geniestreichs: „nichts / sichtbar außer diesem blitz“, nur dass er nicht mehr dem Genie gehört, sondern einem Mann, der etwas abseits steht, „verhüllt / von schwarzem tuch“. Der Fotograf ist die Hauptfigur in den beiden kurzen Strophen, die Raphael Urweiders „lichter in menlopark“ abschließen. Thomas Alva Edinson und seine Mitarbeiter, in deren Atelier dieses Foto geschossen wird, sind nur Randfiguren, die nach dem Foto kurz innehalten, „bis einer kurz in die hände klatscht / boys machen wir weiter“.
Raphael Urweider kommt aus Bern, ist 26 und Dichter. Im letzten Jahr hat er in Darmstadt den Leonce-und-Lena-Preis gewonnen, jetzt ist sein erster Lyrikband bei Dumont erschienen. Dort gibt man sich Mühe, Gedichte dem Minderheitenschutzprogramm zu entreißen: Jede Saison steckt man ein, zwei ordentlich aufgemachte Titel in lustige Wellpappschuber, damit man merkt, dass Lyrik eigentlich was ganz Nettes ist.
Das kann man doof finden, von wegen Verpackung ist wichtiger als Inhalt und so – Raphael Urweiders lustige Gedichte möchte man sich allerdings tatsächlich nicht in einem der charmant einfarbigen Frankfurter Taschenbücher vorstellen, in denen man sonst so oft Poesie verkauft bekommt: „überwältigt von der schönheit der natur / setzt sich der priester ins kühle nass / einer wiese kleinbauern hämmern / stehenden fußes zaunpfähle“, beginnt ein langes Gedicht, und die „kleinbauern“ hüpfen wie Comicfiguren durch die Terzette, hämmern, säen, sägen, fischen mal am Anfang, dann am Ende einer Zeile, und wenn es den Spaß nicht mindern würde, müsste man wohl von „gewagten Aktzentverschiebungen“ und anderen Dingen sprechen.
So ist das, als so genannter Literaturkritiker. Da sitzt man an seinem Schreibtisch, verhüllt vom dunklen Schein seines Computerbildschirms und denkt: Da geht’s doch auch um Erfinder und Entdecker in diesen Gedichten, um die Natur und um die ganze Neuzeit, also müsste man, auch mal grundsätzlich, zum Stand der deutschen Lyrik ... Und Herr Urweider zuckt nur kurz mit den Achseln: „boys machen wir weiter.“ Na, gut. Entschuldigen Sie bitte die Störung.
Raphael Urweider: „Lichter in Menlopark“ Gedichte. Dumont, Köln 2000, 117 Seiten, 34 DM
Bob Dylan
Es ist eigentlich ganz einfach. Der 29. Juli 1966 ist der Stichtag, der Tag, an dem Bob Dylan mit seinem Motorrad verunglückte. Bob Dylan, finden Jack und Neal, war der „letzte und wahrhafte Bop-Poet der reinen schnellen Beat-Schule, die keine Schule ist, der direkte Erbe des Dharma von Ginsberg und Kerouac, Burroughs und Ferlinghetti ...“ – und nach diesem Unfall nicht mehr der Gleiche: „Dylan ist tot“, finden Jack und Neal. Die beiden wollen echte Hipster sein. Sie haben sich ihre Vornamen von Jack Kerouac und Neal Cassidy geliehen und lehnen alles ab, was es vor dem 29. Juli 1966 noch nicht gab. Und das ist eine ganze Menge.
Das ist mal ein skurriler Einfall für ein Buch: „Unterwegs mit Jack“ ist das Debüt des jungen englischen Schriftstellers Toby Litt. Lustig ist, wie Jack und Neal sich in ihrer englischen Kleinstadt, mitten in den 90ern, ihre Hipster-Welt konstruieren. Bis hin zur Katze Koko, die nach einem Bebop-Stück von Charlie Parker benannt ist: „Re-bop oder Bebop. Ich glaube, Jack würde Re-bop bevorzugen“, erklärt Neal, „Das ist ein bißchen hipper.“
„Unterwegs mit Jack“ funktioniert als englische Hommage an die amerikanische Beatliteratur ganz prima. Das englische Teenager-Drama, das sich dann zwischen Jack, Neal und Mary, ihrem „chick“, abspielt, nimmt man gerne mit, Sex zu dritt sowieso, aber die pflichtgemäße Fahrt durch die USA im letzten Drittel – „in sechs Tagen hatten wir über zweitausend Meilen zurückgelegt“ – ist dann nur noch ein Art nette Parodie auf „On the Road“.
Sei's drum, das ist das Schicksal jeglichen Hipstertums. In England hat man wenigstens ein feine ironische Art, damit umzugehen. Wie hieß noch gleich diese Platte von Oasis: „Standing On The Shoulders Of Giants“. Nur mal so als Beispiel.
Toby Litt: „Unterwegs mit Jack“. Rowohlt, 348 Seiten, 24 DM
Das Ende
Mister Ellis, fragte der Redakteur damals in Berlin dann noch, welcher Roman hat Sie denn als Teenager am meisten beeindruckt? Bret Easton Ellis sagte daraufhin, dass er als Teenager nicht so besonders viele Romane gelesen habe und dass ihn Filme und Musikstücke mehr beeindruckt hätten. Das war nicht die Antwort, die der Redakteur hören wollte, und darum fragte er einfach noch mal. Ellis sah dem Redakteur in die Augen und sagte: „,London Calling‘ von The Clash“. Der Redakteur versuchte zu lächeln.
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