: Fort mit den Fußschellen!
Endlich. Die Tage sind wieder länger als die Nächte. Mit etwas Glück lässt sich sogar die Sonne sehen – nichts wie raus ins frische Grün! Oder zählen Sie zu den Bewegungsmuffeln, die von Kinderbeinen an zum Ergehen in der Natur gezwungen worden sind? Dann wird es Sie vielleicht verblüffen, dass die Erfindung des Spaziergangs zu den Großtaten der bürgerlichen Emanzipation zählt
von FRANZ SCHIFFER
Kompliziert war sein Satzbau, klar geordnet dagegen der Alltag des Weisen: Immanuel Kant schlief immer genau sieben Stunden. Morgens schrieb das Genie, am Mittagstisch saßen regelmäßig Gäste. Der Nachmittag war zum Meditieren da, und jeden Abend, Punkt sieben, tat der kleine Mann etwas Epochales. Er trat vor seine Haustür und ging in Königsberg einher. Frische Luft schnappen, würden wir eher unphilosophisch sagen. Eine Runde drehen, mal eben mit Foxi zum Park und zurück. Fußgänger, bedenke: Am Ende des 18. Jahrhunderts ging vom Spaziergang ein revolutionärer Geist aus, und ein bisschen davon weht immer noch.
Was wir heute unter zwangslosem Schlendern verstehen – Beamte, Kaufleute und nicht zuletzt die Vordenker der Aufklärung haben es vor gut zweihundert Jahren unters Volk gebracht. Von Dorf zu Dorf, vom Dorf ins Feld waren damals gängige Fußwege, um die man nicht herumkam. Hinzu kamen ab und zu Prozessionen – religiöse Umgänge. Nur adelige Herrschaften, die sich in exklusiven Gärten die Beine vertraten, pflegten schon länger den konkreten Müßiggang. Breitenwirkung erlangte das Lustwandeln aber erst nach der Französischen Revolution. Gudrun König, eine Tübinger Kulturwissenschaftlerin, ist im gutbürgerlichen Ursprung des Spazierens bewandert. Ihr Befund: „Die politischen und sozialen Umgestaltungen machten den Bürgern Lust auf Bewegung. Im Gegensatz zur Fortbewegung mit Kutsche oder Sänfte demonstrierte das Zufußgehen ein demokratisches Moment.“
Naturverbundene Erzieher jubelten: „Oh! Zu Fuße! Zu Fuße! Da ist man sein eigener Herr!“ Denn das leibliche Wohlergehen war fortan nicht mehr nur gottgegeben oder von fürstlicher Gunst abhängig. Vor allem städtische Flaneure bevölkerten neu geschaffene Promenaden und Alleen, schritten hinaus aufs Land – der geselligen Erholung wegen, aber auch, weil sie Hohn und Spott im Sinn hatten. Die Aristokraten sollten einmal sehen, wie schlaff und verweichlicht sie waren.
Dass ausgerechnet der stets kränkelnde Kant vorneweg spazierte, hat auch etwas mit seiner Gedankenwelt zu tun. Die berühmte Frage der Preußischen Akademie der Wissenschaften – „Was ist Aufklärung?“ – hat der Philosoph jedenfalls mit auffallend eingängigen Bildern beantwortet. „Allein gehen“ ... „freie Bewegung“ ... „sicherer Gang“, so umschrieb er die Maxime, selbstständig zu denken und zu handeln ohne „die Fußschellen einer immer währenden Unmündigkeit“. Und so wurde aus einem spannenden Text der Geistesgeschichte ein Gehtraktat. Noch anno 1989 schob Kants Botschaft die friedlichen Revolutionäre in Ostdeutschland an. Erfolgreich probierten sie den „aufrechten Gang“.
En passant gerieten die ersten stolzen Geher freilich auf einen Irrweg: Landschaft wurde jetzt zusehends als Erlebnislandschaft entdeckt, als Kulisse fürs eigene Wohlbefinden, ohne nach den Bedürfnissen der Natur zu fragen. Die Umwelt bekam die ersten genüsslichen Fußtritte ab. Eine schlichte körperliche Betätigung wurde zum frühen Vorboten sportlicher Massenbewegungen mit singenden Wandervögeln und strammen Trimmern, kühnen Paraglidern und Crosscountry-Freaks.
Hundert Jahre nach Kant kommt das zweckfreie Bummeln beim Proletariat an. Die Arbeitszeit wird kürzer, die allgemeine Sonntagsruhe setzt sich durch, und die sonst schuftenden Männer zieht es samt Anhang auf die Spazierwege hinaus. „Werktags auf dem Sofa liegen, sonntags im Freien gehen“, nennt ein Berliner Arbeiter 1910 als seine liebsten Freizeitvergnügen. Dass der Drang ins Grüne eine praktische Seite hatte, belegt damals ein reimender Spaßvogel: „Ich spaziere heut’ Abend / nach altem Brauch / Gedanken habend / Verdauung auch.“
Strenge Familienväter erklärten den Spaziergang zur Sonntagsnachmittagsqual. Es folgten Jahre, in denen die Deutschen mehr marschierten als flanierten. Man flog auf die Nase, rappelte sich hoch und machte es sich auch und gerade am Main im Wohlstand bequem, wurde faul und fett. In Frankfurt entstand 1963 ein spazierwütiger Verein. Just ein Sohn aus gutem Autohause, Georg von Opel, hatte die Idee, eifrigen Fußgängern eine Anstecknadel mit goldenem Schuh zu schicken.
Mit Gehstock und Schäferhund startete er, wie ein Glossist schrieb, einen „Angriff auf die knarrenden Kniegelenke des wirtschaftswunderlichen Normalverbrauchers“. Dem IOC-Mitglied Opel und seiner „Stiftung Spazierengehen“ kam es auf einen funktionierenden Körper an. Noch bevor Studenten und Metaller, Schwangere und Schwule demonstrativ loszogen, hielt er immerhin noch die Einsicht hoch, die der Humanist Johann Gottfried Seume aufschrieb: „Es ginge alles viel besser, wenn man mehr ginge.“
Die Regeln der Stiftung sind simpel. Wer ins Keuchen kommt, hat schon versagt. Nochmal von vorn: Langsam gehen, durch die Nase Luft holen und nicht vergessen, dass AUSatmen wichtiger ist als EINatmen. Miteinander reden, ja – auch schwitzen darf sein, bloß nicht keuchen. Das wäre das Ende des Spaziergangs, wie Opel ihn versteht. 540.000 bewusste Spaziergänger haben schon mitgemacht: Sie sind mindestens hundert Stunden im Jahr richtig geschritten und haben gewissenhaft Buch geführt. Spazierengehen nach der Uhr, sich dabei auch noch die Hacken ablaufen – ein deutscher Widersinn, aber durchaus gesund.
Andere sind die einfache Leibesübung locker angegangen und haben es zum Weltmeister gebracht. Herberger, so heißt es, beschwor seine Männer vor dem Berner Sieg einzeln. Mit jedem ging der drahtige Schlauberger ein Weilchen durch die frische Luft von Spiez, flüsterte seine Tipps ein, hörte zu. Überhaupt die Schweiz – Genf – der Waldspaziergang! Synonym für die Annäherung eines russischen und eines amerikanischen Diplomaten, als es 1982 um die Sprengköpfe von Raketen ging. Schritt für Schritt fanden die beiden Unterhändler aus ihrer Sackgasse heraus; die Abrüstung machte damals einen bemerkenswerten Sprung nach vorn. Ein stiller Triumph des geruhsamen Gehens unter freiem Himmel.
Lässt man die beachtlichen Fußwege im Freizeitpark und Zoo oder beim Jagen, Angeln und Gassigehen als Spaziergang gelten, dann geht es ihm sogar Spitze. Mit all diesen Varianten ist die Deutsche Gesellschaft für Freizeit auf 19 Millionen Menschen gekommen – mithin ein Viertel der Bevölkerung –, die vom vierzehnten Lebensjahr an mehrmals in der Woche spazieren. Das ist Platz eins in einer Liste von dreißig Freizeittätigkeiten draußen – knapp vor Radeln, weit vor Inlineskating (eine Million), Streetball (500.000) und Paragliding (30.000). Deutschland outdoor – die Naton geht demnach zu Fuß, erst recht und zunehmend die Alten, immer und für alle Zeiten die Verliebten. Weniger gern Singles, die sich auf längeren Wegen wohl doch allzu solo fühlen.
Gar nicht mehr gut zu Fuß sind indes zwei Grüppchen trittfester Aktivisten – die Ostermarschierer und Freunde von Maikundgebungen machen sich nur noch vereinzelt auf die Socken. Auch Kinder und Jugendliche sind lieber Stubenhocker, als dass sie sich dem alten Ritual des familiären Füßevertretens unterwerfen. Seitdem in fast jedem Kinderzimmer ein Fernseher und ein Computer stehen, zieht es kaum noch junge Leute nach draußen. Bloß durch die Natur zu laufen, ist ihnen ohnehin zu öde. Wenn schon, dann muss es gleich extrem sportlich zugehen.
Manche Rückschritte hat denn auch der Tübinger Soziologe und Spazierforscher Bernd Jürgen Warneken beobachtet, ohne deshalb weniger überzeugt zu promenieren. Gewiss seien die Fußgängerzonen der Cities für viele nichts als Kaufrennstrecken. Die im Spaziergang verborgene Chance, dass die Stadt zu einem Forum demokratischer Geselligkeit wird und unterschiedliche Sozialgruppen mischt, erfülle sich heute nicht so sehr im Alltlag, sondern nur bei besonderen Anlässen wie alternativen Stadtfesten zum Beispiel. Und doch: „Das bürgerliche Kulturmuster Spaziergang ist nach wie vor eine ideale Bewegungsform von Humanität, eine sich und andere schonende Form der Fortbewegung, die Entspannung und Konzentration verbindet.“ Um sich und in sich sehen, sich besinnen und sich mit anderen bereden – das gehe nun mal am schönsten zu Fuß im Freien.
Richtig: Joschka Fischer joggt, gerät also öfter ins regelwidrige Japsen und kann auf die Tour nimmer den goldenen Schuh bekommen. Doch es werden ernste Stunden anbrechen, furchtbare Zerreißproben. Rot mit Grün oder Grün mit Grün am Scheideweg oder Fischer festgefahren mit einem weitgereisten Kollegen. Dann wird man zwei Herren spazieren sehen. Hände mal locker auf dem Rücken, mal in den Hosentaschen. Die feinen Sakkos lose über die Schultern gehängt. Geduldig und gelassen schreitend werden sie sich einigen – irgendwo im Grunewald.
FRANZ SCHIFFER, 45, ist Pädagoge und freier Autor. Zur Zeit unterrichtet er an einer deutschen Schule in Istanbul
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