: Hegel häckseln und das Banale umarmen
„Dear freund, i forgass, to tell dir“: Vom tendenziell uferlosen Werk des vor zwei Jahren verstorbenen Schweizer Künstlers und Nomaden Dieter Roth zeigt die Staatsgalerie Stuttgart übermalte Postkarten, flimmernde Bildchen und collagierte Bücher. Quantität und Kleinteiligkeit im musealen Format
von ULF ERDMANN ZIEGLER
Ein Zufall hat es gewollt, dass die Schweiz in Dieter Roth einen Künstler fand, den sie mochte: die Schweiz mit ihrer Ordnung, ihrer Heimlichtuerei und ihrem Nationalstolz. Ein ungleiches Paar, das kann man wohl sagen. 1982 bekam Roth den Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig, mit 52 Jahren, und zeigte dort im großen Saal auf 30 Super-8-Projektoren 350 Dreiminutenfilme in einem halbstündigen Durchlauf. Jetzt, zwei Jahre nach seinem Tod, hat die Staatsgalerie in Stuttgart das Spektakel reinszeniert. Auf drei Wänden erscheinen die flimmernden Bildchen: Roth, Roth, Roth. Roth beim Autofahren und im Zug, im Hotelzimmer und im Atelier, beim Steakbraten und wiederum beim Steakbraten. Die Projektoren machen einen traktorartigen Krach, so dass ein Museumsmann laut brüllen muss, der die Besucher wissen lässt, dass sie sich im Raum frei bewegen dürfen. Weil die Projektoren mittig im Saal auf Brusthöhe gestellt sind, verdecken nun die Schatten der Zuschauer zum Teil die Bilder.
Die Stuttgarter Ausstellung ist keine Retrospektive und kann auch keine sein. Denn was Roth im Laufe seines Lebens installiert, in Ateliers hinterlassen, in Lagern angehäuft, bei Sammlern und Freunden deponiert hat, kann kein Mensch mehr übersehen. Die Staatsgalerie hält sich – neben den Biennale-Filmen – im Wesentlichen an die Sammlung eines württembergischen Zahnarztes namens Hanns Sohm, der 1963 begann, Arbeiten Roths vor ihrem Schöpfer in Sicherheit zu bringen. Sohm, von Roth als „Sohmeister“ adressiert, war auf Fluxuskünstler spezialisiert und wusste, dass kleine Werke nicht notwendig geringe sein müssen. Über Jahre schrieb ihm Roth Postkarten, deren Bildmotive der Absender ergänzte, manipulierte oder unter einem pastosen monochromen Acrylauftrag nahezu verschwinden ließ. Die Luftansicht einer Stadt mit drei mächtigen Brücken verdeckte er mit einem kräftigen Rot, sehr effektvoll eingesetzt gegen das verdächtig strahlende Blau des Stroms, das als einzige Farbe und Fläche der Fotopostkarte übrig bleibt. Im „sohm dossier 2“ der Staatsgalerie, das als Katalog firmiert, ist das Motiv als Nr. 343 ausgewiesen und als kölnisches identifiziert. Wenn man das weiß, sieht man sofort die Stadt in Flammen.
So sehr hat der Sammler die Kölnpostkarte geschätzt, dass er sie sorgsam in einen grau gestrichenen Holzrahmen eingeklebt hat; die Rückseite ging also verloren. Viele andere Postkarten, gerichtet an Hanns Sohm vor allem, aber auch an den amerikanischen Dichter und Lektor Emmett Williams, sind in ein großes, grobes Holzgerüst zwischen Glas so eingelassen, dass man bequem beide Seiten betrachten kann. Nach New York schreibt Roth an Williams, der eine Roth-Publikation bei der „Something Else Press“ vorbereitet: „dear freund, i forgass, to tell dir: please, schreib to Richard Hamilton about the foreword. no? dein junger D. R.“ Die Spuren der Sprachspiele George Grosz’ sind deutlich zu erkennen, viel weniger deutlich als die Wüstenlandschaft, die Roth auf der Vorderseite der Postkarte durch Übermalung ins Apokalyptische gewendet hat.
Schnaps und Pinsel
Erstaunt liest man im Katalog, dass Dieter Roth selbst das Postkartenregal erfunden hat, eine erstaunlich pompöse museale Lösung für eine so kleine künstlerische Form. Nicht, dass man einem Museum vorwerfen darf, Platz zu haben, aber die altmodischen hohen Räume ohne Tageslicht im Altbau der Staatsgalerie konterkarieren sehr wohl die Dichte, Kleinteiligkeit und Flüchtigkeit des künstlerischen Werkes, für das Dieter Roth stand. Man mag der verantwortlichen Kuratorin Ina Conzen glauben, dass Roth sich in den letzten Jahren seines Lebens intensiv der Frage widmete, wie sein kompliziertes und tendenziell uferloses Werk einzupassen wäre ins museale Format. Regelmäßig erschien er in der Staatsgalerie, um seinen Urentwurf des Künstlerateliers, die „Bar 0“, auszubauen, eine Assemblage mit Töpfen, Gläsern, Pinseln und Schnapsflaschen, die als vertikale Wucherung an einen senkrecht stehenden Holzfußboden montiert wurde. Dabei fiel Conzen auf, wie Roth bei wiederholten Besuchen in der ersten Jahreshälfte 1998 mit dem Ausbau des Ensembles nicht mehr recht vorankam. Der Alkohol hatte ihn fast vernichtet.
Als Kurt Schwitters in Hannover an seinem Merzbau werkelte, wurde Dieter Roth dort geboren, 1930. Sohn eines Schweizer Kaufmanns, entkam er dem Bombenhagel der Alliierten mit 13 Jahren, als er zu Pflegeeltern nach Zürich gegeben wurde. Später wohnte er mit den Eltern bei St. Gallen, wo er das Gymnasium besuchte, das er mit 17 Jahren schmiss. In der Lehre bei einem Werbegrafiker lernte er die gängigen Drucktechniken, später Lithografie in privatem Unterricht. Als Grafiker arbeitslos, schlug er sich eine Weile mit Gelegenheitsarbeiten auf Baustellen durch. Vom Bauarbeiter blieb ihm die Statur – ein fassförmiger Bauch unter Hosenträgern – und ein unnachgiebiger Blick.
Während sich Roth als Künstler etablierte, arbeitete er hart an seiner Verwandlung in einen Bürgerschreck. 1957 sah es noch so aus, als würde er sich mit einer Existenz an der Peripherie abfinden, als er nach Reykjavík zog und Sigrídur Björnsdóttir heiratete. Durch „Unglück, Sauferei und Scheidung“, wie er es später zusammenfasste, fand Roth zu seiner eigenen Form, einer Verschränkung von literarischem und bildkünstlerischem Werk, von „Logos“ und „Ikon“, wie Emmett Williams beobachtete. „Frühe Schriften und typische Scheiße ausgewählt und mit einem Haufen Teilverdautes von Oswald Wiener“ hieß ein Buch, das ihn 1973 per Luchterhand anschließen sollte an den Literaturmarkt.
Hochkultur aushebeln
Natürlich war Diter Rot – wie er sich eine Weile nannte – nicht allein mit seinem Versuch, Vorstellungen von Hochkultur auszuhebeln, das Banale zu umarmen und sich „Ran(zu)tasten an das Eklige“ (Roth). Aber während Edward Kienholz wunderliche Räume erfand, Polke an den Malerfragen nagte und Duchamp als Ikone des Verschwindens erneut in Erscheinung trat, formulierte Roth 1965 einen substantiellen Angriff auf die museale Werkform: „INSTEAD OF SHOWING QUALITY (surprising quality) WE SHOW QUANTITY (surprising quantity)“. Die Herleitung seiner Idee ist auch heute noch umwerfend. Im Business, argumentierte er, finde sich die Qualität immer in der Werbung. Die Werbung aber ziele auf das Produkt, und beim Produkt zähle immer die Masse. Folglich erschien in Roths Gedanken die bürgerliche Kunst als Nachahmung der Werbung – eines falschen Versprechens unter dem Zeichen des Edlen. Roth schlug sich progammatisch auf die Seite der industriellen Produktion, die auf „Expansion“ ziele und „(in the end) power“ anstrebe. Was er hervorbrachte, sah allerdings überhaupt nicht nach Fließband aus. Sogar von den 20 Wurstpellen, in denen Georg Friedrich Hegels Gesammelte Werke (Suhrkamp) – kleingehäckselt und mit Schmalz vermischt – verschwanden, gleicht keine der anderen.
Dieter Roth, der Deutsch-Schweizer und Wahlisländer, war inzwischen ein Nomade geworden, mit Lehraufträgen, die im Chaos endeten, und glimpflich verlaufenden Gastprofessuren in Providence, Rhode Island, und in Düsseldorf. An beiden Orten wurde sein Atelier einmal zwangsgeräumt; der Künstler eröffnete derweil weitere Dependancen, in Stuttgart und Basel, wo er schließlich starb. Er hatte überall Freunde, die er großzügig beschenkte, brüskierte und charmant befeindete. Als er 1967 darauf verfiel, Essensreste zu stapeln und als „Haufen“ oder „Insel“ dem Verfall preiszugeben, wurde der Künstler auf der Flucht vom Ruhm eingeholt. Seine „Poeterei“ lebte von der Offenbarung des Selbst; das Selbst hing an der Flasche, um sich zu vergessen.
Sogar aus dem Entzug schlug er noch Gewinn, weil er ihm die Augen öffnete für die unglaubliche Ödnis der Fernsehserien, denen er verfiel. So kam er auf das Konzept für die Biennale-Arbeit mit den 30 Projektoren, die schnatternd das Nichts in unendlicher Fortsetzung zur gültigen Form erheben – nach Roths Einsicht: „Alles, was das Bild runterzieht, ist erlaubt, weil es in Wahrheit das Bild hebt.“
Dieter Roth war ein Kind seiner Zeit, durch und durch geprägt vom Nazitum, vom Normzwang, vom Kunstwollen, was er samt und sonders hasste. Die Feierlichkeit des Fluxus war ihm fremd, das Readymade fand seine Bewunderung nicht, der Guruzauber von Beuys ging ihm auf die Nerven. Sieht man aber nur einen Hauch des Gesamten seines Gesamtkunstwerks, kommt einem die Ahnung, dass Roth viele Tore geöffnet hat. Die Totalität alltäglicher Erfahrung bei Fischli/Weiss, die Ästhetik der Quantität bei Jason Rhoades, das Sarkastisch-Wuchernde bie Kippenberger, die aphoristische Skulptur bei Timm Ulrichs: Sie sind Dieter Roth nicht ähnlich, aber sie haben sich von seiner Radikalität das Produktivste geborgt, einen massiven Dissens fern jeder Dogmatik, der gespeist ist aus einer unauflöslichen Spannung von Biografie und Gegenstand.
Staatsgalerie Stuttgart, bis 3. September 2000. Katalog „Dieter Roth. Die Haut der Welt“, 49 DM
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