: Zerstörung als skulpturaler Effekt
Alltagsdokumentation, Reportagefotografie und ein leises Abdrehen in die Fiktion bestimmen eine neue, unsentimentale Optik. In Köln zeigt die Ausstellung „Die Welt als Ganzes“, wie sich die deutsche Fotografie nach 1989 um Nüchternheit bemüht
Zwischen 1989 und 1990 schien es, als könne man durch Wiedervereinigung und Öffnung des Ostblocks plötzlich auch „die Welt als Ganzes“ wieder sehen. In diese Zeit fällt, so der Kurator der gleichnamigen Kölner Ausstellung, Fotokritiker und Essayist Ulf Erdmann Ziegler, der Beginn einer neuen Dokumentarfotografie. Ausgehend von den Fotoklassen der Fachhochschulen insbesondere in Essen und München, entstand dabei eine Sichtweise, die sich durch eine Ästhetik des Nüchternen auszeichnet. Das bevorzugte Forum dieser Fotografie war das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das in den 90er-Jahren mit seinem Art-Director Markus Rasp maßgeblich dazu beitragen sollte, die neue, durchweg farbige Fotosprache zu etablieren. Fast alle der 17 gezeigten Werkgruppen sind in Farbe fotografiert.
Inhaltlich zeigt sich das Neue dieser Fotografie in der konsequenten Überwindung der Opposition von Privatem und Öffentlichem. Hier ist sie in der Lage, tatsächlich neue Aussagen über ihre Gegenstände zu machen. In Relation dazu verschiebt sich auch der Fokus dessen, was „dokumentarisch“ zu nennen ist und was die neuen Fotografen, die sich mehr als Autoren verstehen, ohne optisches Pathos in ihren Geschichten erzählen. Somit gerät hier letztlich auch die Grenze von Realität und Fiktion in Fluss.
Auf den Spuren einer sich unentwegt verändernden Wirklichkeit, die das Absurde mühelos in tägliche Abläufe integrieren kann, ist Enno Kapitza in Tokio auf einen Picknickplatz gestoßen, der in der Einflugschneise eines Flughafens liegt. Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch untersuchen den Wandel der chinesischen Landschaft durch das gigantische Staudammprojekt am Jangtse und zeigen die Zerstörung als skulpturalen Effekt. Eva Leitolfs Reportage über das Zuhause von Rechtsradikalen beeindruckt durch ihr seismografisches Gespür für die große Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Ordnung, die bis ins akkurate Arrangement von Gegenständen in der trauten Heimeligkeit reicht.
Die problematische Natur dieser Art Dokumentarismus aus der Nahsicht zeigt sich in den Arbeiten über drogensüchtige Prostituierte von Peter Hendricks. Er richtet einen fragwürdigen Blick auf das Elend der Frauen, ohne dabei mit einzubeziehen, unter welchen Bedingungen diese Nähe möglich wurde. Zusammenhänge werden bei Hendricks ausgeklammert. Eine derart auktorial verstandene Fotografie hätte sich, statt nur die Position des Freiers einzunehmen, Zeit nehmen können, einen Blick auf das soziale Umfeld zu richten. Auch die pseudokritische Präsentation der Bilder in der Manier von Wahlplakaten ändert wenig an dem arg voyeuristischen Blickwinkel.
Das Hyperreale auf der einen Seite und das leise Abdrehen in die Fiktion – beides hat in „Die Welt als Ganzes“ seine Berechtigung. Die gebürtige Tschechin Jitka Hanzlová reist an den Ort ihrer Kindheit zurück, und es ist ein erlaubter Eingriff ins Bild, die Farbgestaltung digital ihrer ganz privaten Kindheitswelt anzupassen. Martin Fengels fiktives Fototagebuch „Andi Bohl“ wagt sich am weitesten ins Reich des Erzählten vor – hier wird das Dokumentarische an seine Grenzen geführt.
Diese Fotos versuchen, die Erscheinungen der Realität vorsichtig abzuschöpfen anstatt spektakuläre Situationen einzufangen. Doch wie jede fotografische Neuerung ist auch diese „Antiästhetik“ inflationären Prozessen unterworfen: Was in Publikationen wie dem SZ-Magazin als Neuerung im Bereich der Reportage- und Dokumentarfotografie eingeführt wurde, lässt sich mittlerweile als Illustration jeder beliebigen Mode- und Produktfotografie anwenden. Dort ist Nüchternheit eine modische Attitüde mehr: Alles, was ein wenig nach shabby-chic und kranken Farben aussieht, gilt nach Art von Juergen Teller oder Wolfgang Tillmans plötzlich als fotografierenswert. Das Verdienst der Ausstellung bleibt jedoch davon unangetastet, das Nüchterne einmal als offenen Werkbegriff zugrunde zu legen.
MAGDALENA KRÖNER
„Die Welt als Ganzes. Fotografie aus Deutschland nach 1989“, bis 1. 10., SK-Stiftung Köln, Katalog 38 DM
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