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Absturz ins Auffangbecken

Heftiger an den Verhältnissen reiben: Zur Eröffnung des Hamburger Thalia Theaters unter der neuen Intendanz von Ulrich Khuon gibt es Slapstick im „Nachtasyl“, Drogentrips und globale Verlierertypen

von CHRISTIANE KÜHL

Nicht alles in Hamburg ist neu. Die beiden Akkordeonspieler zum Beispiel, die pünktlich zum Spielzeitbeginn vor dem Thalia Theater ihre Schemel aufstellen, sind eine hanseatische „Come Rain Or Come Shine“-Premierenkonstante. Das Rauchverbot im Foyer ist ein Klassiker, die entsprechende Blockierung der Eingangsstufen Tradition. Der Zuschauersaal mit dem imposanten spinnengliedrigen Leuchtern erinnert weiter ungeniert an die Fünfzigerjahre.

Nicht alles ist in Hamburg auf Anfang, das Theaterwesentliche jedoch schon. Am kommenden Freitag startet das Deutsche Schauspielhaus seine erste Spielzeit unter Tom Stromberg, und schon am vergangenen Wochenende wagte das zweite Staatstheater der Stadt einen Neubeginn. Nach fünfzehn Jahren unter der patriarchalen Intendanz Jürgen Flimms, der das Haus mit einem exzellenten Ensemble, schönen, oft modernen Klassikern und regelmäßigen Besuchen Bob Wilsons zum abonnentenfreundlichsten Handwerksbetrieb der Republik machte, sorgt nun Ulrich Khuon am Alstertor für eine Umorientierung. Der 49-Jährige hat die vergangenen 7 Jahre erfolgreich damit verbracht, das Schauspielhaus in Hannover durch kontinuierliche Förderung junger Dramatiker und Regisseure vom Provinzmuff zu befreien. Für Hamburg hat er einen anderen Plan: eine Art transparente Subversion.

„Jeder Anfang, dem es nicht darum zu tun ist, aus der Verbindung zum Bisherigen Neues zu schaffen und durchzusetzen, ist nicht der Rede wert“, wendet sich Khuon im Spielzeitheft recht umständlich ans „verehrte Publikum“. Die erste Hamburger Produktion unter seiner Ägide illustriert das beispielhaft: Andreas Kriegenburg inszeniert Maxim Gorkis „Nachtasyl“. Kriegenburg war neben Leander Haußmann und Stefan Kimmig einer der Regisseure, mit denen Khuon in Hannover regelmäßig zusammenarbeitete. Gleichzeitig muss man wissen, dass das Thalia-Publikum Flimm für nichts mehr liebte als für seine Inszenierungen russischer Dramatiker (Tschechow forever). Mit den vertrauten naturalistischen Re-Produktionen fein ziselierten Schwermuts hat „Nachtasyl“ aber nichts zu tun: Kriegenburg ist ein Spieler. Jedes Stück birgt ihm ein Überangebot von Ideen und Empfindungen, die vermittelt werden könnten. „Das war hart! Das war modern!“, erklärt in seiner Bearbeitung des Dramas eine Schauspielerin dem Publikum ihre Auftritte in jungen Jahren: „Da haben wir keine Geschichte erzählt. Das ging auch.“ Und weil das Thalia-Publikum in den letzten Jahren die Arbeit Frank Baumbauers am benachbarten Schauspielhaus mitverfolgen durfte, hat es den Witz sogar kapiert.

Robert Ebeling hat das Asyl mit acht Feldbetten und einer Heimorgel eingerichtet. Am Rand der Bühne verläuft ein Graben, in den ab und an Betten gleiten; das überrascht, denn tiefer als in dies Auffangbecken der Gescheiterten zu rutschen scheint unmöglich. Wer hier landet, hat bereits alles verloren. Auch die Hoffnung. Allein der später hinzukommende Pilger Luka (Markwart Müller-Elmau) kann mit seinen individuell zugeschnittenen Verheißungen noch einmal Lebensdurst wecken. Theoretisch jedenfalls, de facto endet die Sache mit Leichen und Desillusionierung im Quadrat. Ein Elendspanorama, das nach der Uraufführung 1902 durch Stanislawski als „Mitleidsdrama“ in die Geschichte einging.

Kriegenburg sieht die Sache anders. Weder der arme Andere noch sein Doppelgänger in der Opfervariante stehen auf der Bühne, sondern Figuren mit Macken. Insuffizienzen verschiedenster Art werden durch nervöse Ticks, Lügen oder Gesangseinlagen kompensiert. Das ist sehr komisch, wie sich die Verlierer hier als One-Man-Show produzieren; besonders Fritzi Haberlandt macht aus Natascha einen aufreizend abgebrühten Mitleidsjunkie und springt souverän zwischen Spiel und Spielen des Spiels. Weit über Sketche hinaus geht die Inszenierung jedoch nicht. Polyphone Weltverlustsplappereien, choreografierte Schlaflosigkeit und repetitive marthalersche Schlagermusik können das Geschehen nicht zusammenhalten, weil das Geflecht der Figuren untereinander unerforscht bleibt. Mit der Welt außerhalb des Asyls haben ihre Biografien auch nichts zu tun – dort laufen nur Buster-Keaton-Filme. Das ist modern, okay, aber hart mitnichten. Man muss ja nicht gleich, wie die Berliner Schaubühne in ihrer Eröffnungsinszenierung „Personenkreis 3.1“, den gesamten Bahnhofsvorplatz auf die Bühne hieven, aber etwas Reibung an den Verhältnissen ist doch unbedingt wünschenswert.

Gerieben, und zwar heftig, hat sich Moritz Rinke, dessen „Republik Vineta“ am Samstag im Thalia Theater uraufgeführt wurde. Das Stück des 33-jährigen Berliners, der ebenfalls in Hannover Karriere machte, entstand als Auftragsarbeit für das Thalia Theater; eine Tradition, die Khuon vor allem in seiner neuen, kleinen Bühne in der Altonaer Gaußstraße mit Autoren wie Dea Loher, Steffen Kopetzky und John von Düffel fortsetzen möchte. „Republik Vineta“ beginnt wie eine gut gemachte Polit-Komödie und endet wie ein schlechter Drogentrip.

In einer Villa mit dem holztäfeligen Charme eines verlassenen Waldhotels (Bühne: Katja Haß) planen sechs Männer die Stadt der Zukunft. Nun ist es leider so, dass nur einer von ihnen zurechnungsfähig scheint, während der Rest sich in hoffnungstumbe Sozialdemokraten und über Leichen gehende Unternehmer teilt. Dazu kommen ein idealistischer Architekt mit dem großen Projekt der Gegenmoderne sowie die Tatsache, dass Männer beim Träumen Kinder und beim Machen retardierte Stümper sind. Da sie jedoch unglücklicherweise die Verfügungsgewalt über unsere urbane Zukunft haben, wird Utopia aussehen wie Club Mannheim mit Umgehungstunnel.

Rinke hat amüsante, ironievolle Dialoge geschrieben, die Stephan Kimmig über eine weite Strecke recht straight auf die Bühne bringt. Es geht da ein wenig zu lange um Baupläne und Themenparks – ein Tag in der Projektstrukturplanungsgruppe ist schließlich kein day at the races. Gerade als das Ganze endgültig in die Posse abzurutschen droht, gelingt Rinke und Kimmig jedoch eine wunderbare Wendung ins Surreale. Das Seminar entpuppt sich als Sanatorium für Globalisierungsverlierer, denen durch Simulation von Arbeitswelt die Ankunft in der totalen Freizeitgesellschaft erleichtert werden soll. Daraus wird nichts.

Moderne und Gegenmoderne, Tradition und Aufbruch – das neue Thalia Theater scheint noch ein wenig in Kompromisse verstrickt. Dabei darf es alles, nur nicht brav bleiben.

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