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Im ostfriesischen Paralleluniversum

Wahre Lokale (38): Silberstrümpfe, Bauchtänzerinnen und Sparkassenfilialleiter im Emder Musikcafé „Anadolu“

Seit nun auch schon wieder fast einem Vierteljahrhundert besuchen die Südostasienspezialistin der Berlinale, Dorothee Wenner, und ich, als Vogelsbergexperte der taz, regelmäßig das ostfriesische Filmfest zu Emden, das im Gegensatz zum Berliner wirklich ein Publikumsfestival ist. Es wird vom Filmclub der Volkshochschule ausgerichtet, wobei die VHS in Emden auch architektonisch in etwa dasselbe ist, was hier der Potsdamer Platz sein will. Neben den branchentypischen Gewerkschaften wird das Emder Filmfest vor allem von ostfriesischen Unternehmern, unter anderen von Otto, gesponsert. Zu den calvinistischen Hauptsponsoren zählt die lokale Buchhandlung, deren Besitzer nach den langen Filmnächten immer auch noch eine Party im „Anadolu“ schmeißt.

Zur Unterstützung des Wirts Kapi („Topkapi“ genannt) rücken schon nachmittags seine silberbestrumpften Buchhändlerinnen und die drei Filialleiter – aus Aurich, Leer und Fedderwardensiel – an. Die Azubis müssen zapfen. Kapi kümmert sich derweil um die Kapelle, die im Festzelt hinter dem Restaurant aufspielt, sowie um die Tänzerin Sonja. Die Mutter von zwei Kindern hat es 1974 aus Baku nach Emden verschlagen. Kapi ist ebenfalls ein Reingeschmeckter – aus Stuttgart. Das Filmfest-Fest geht langsam an, mit ein paar einleitenden Worten der Moderatorin Wenner, die sich in Emden einer noch immer steigenden Beliebtheit erfreut. Dann kommt aber auch schon das erste Freibier, flankiert von lüttjen Lagen des Vertreters der Landesregierung und Bohnen mit Hammelfleisch aus Kapis Küche. Der Buchhändler wünscht guten Appetit. Die Kapelle beginnt mit leiser arabischer Verdauungsmusik.

Noch sitzen die eingeladenen Filmer mit ihren Crews nach ihren nordwesteuropäischen Heimatregionen getrennt an den Tischen und auf den Teppichen. Und wie immer sind die blonden Schauspielerinnen aus Dublin, die alle kein Fleisch essen, dann wieder die Ersten, die zurück ins Hotel wollen: Eine von ihnen klopft mit einem Löffel an ihr leeres Apfelsaftglas und verkündet mit lauter schöner Stimme aufrecht stehend: „Ireland is leaving now. Have a nice party!“ Die Iren werden zügig durch Einheimische ersetzt: Die meisten sind ebenfalls blond – und studieren an der Emder Fachhochschule für Sozialmanagement. Der SPD-Bürgermeister erklärt der Berliner Moderatorin, dass sie sich auf „Event-Kultur“ spezialisieren – was Sinn ergebe, hier zum Beispiel folge auf das Filmfest das noch viel größere Matjesfest, dann das Erntedankfest der Fischer, die Tee-Tage, der Hideaway-Grogtourismus, und zwischendrin dieser ganze Watt-Wander-Wahnsinn immer noch. Mir erklärt der alte Filialleiter der Stadtsparkasse, die einst eine Einrichtung der Stadtväter gegen die Sozialdemokratie war, dass Otto ganz früher, als er mit seinen Jungs noch hinter dem Deich in der „Scheune“ auftrat, viel besser und schärfer gewesen sei als heute, da er die ganze Nation bedienen will – zumal die deutsche, die für echte Ostfriesen noch immer ein Paralleluniversum ist.

Um Mitternacht beginnt der Bauchtanz. Sonja macht den Anfang – erst alleine, dann mit Hans (Bild 1), der zu den vielen Sponsoren, die nicht genannt werden wollen, zählt. Außerdem ist er auch noch in Archangelsk, der Partnerstadt von Emden, sehr engagiert. Schließlich – nach einer kurzen Umbaupause (Bild 2) – tanzt Hans alleine. Plötzlich stehen alle Belgier, die wie immer direkt an der Tanzfläche sitzen, auf, und einer sagt für alle: „Belgique says also goodbye!“ Keiner hört hin.

In der Münchner Film-Ecke, wo auch viele der angehenden Sozialmanagerinnen sitzen, stimmt daraufhin eine der Schauspielerinnen laut zwei hochtönende Lieder an, um von Hans abzulenken. Sie bekommt einen Riesenapplaus. Kapi eilt an ihren Tisch und entschuldigt sich: „Wenn ich früher von der Party gewusst hätte, hätte ich noch mehr Bauchtänzerinnen engagiert!“ Gegen fünf geht die Kapelle zu türkischem Pop über. Alle tauschen ihre T-Shirts and more. Um sechs verlassen die letzten Buchhändlerinnen das Festzelt. Aber pünktlich um 9 stehen sie alle wieder stramm auf ihrem Posten – auch die eigentlich fürs Filmfest Verantwortlichen. „Das ist das Geheimnis ihres Erfolgs – die Ostfriesen haben ein kolossales Standing“, erklärt dazu anderntags der englische Filmkritiker Lawrence, der – wie wir – jedes Jahr da antanzt.

HELMUT HÖGE

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