: Absturz in Weiß
Wilfried Schulz, Intendant des Hannoveraner Schauspielhauses, setzt auf „intelligente Unterhaltung“ – und komplizierte Texte. Deshalb hat er Jossi Wieler nun „Irre“ von Rainald Goetz uraufführen lassen
von JÜRGEN BERGER
Dass kluge Dramaturgenköpfe entscheidend für das Profil eines Theaters sind, wissen wenige so gut wie Wilfried Schulz. Er war lange ein kluger Kopf in der zweiten Reihe. Zuerst in den Achtzigerjahren, als das Heidelberger Theater seine beste Zeit hatte. Dann bastelte er im Team von Frank Baumbauer entscheidend mit am Theatermodell der Neunziger und entwickelte überraschende Kombinationen von Theaterstoffen und Regisseuren. Nun kann einer wie Schulz nach der endgültigen Zerteilung der Baumbauer-Mannschaft am Hamburger Schauspielhaus den klugen Kopf nicht einfach ausschalten. Die Frage, die sich einigen nach seiner Berufung zum Intendanten aufdrängen wollte, war also nicht, ob das neue Hannoveraner Schauspiel nach der erfolgreichen Khuon-Ära jäh verdummen könnte. Eher gab es Mutmaßungen darüber, ob Schulz als guter Zweiter auch ein überzeugender Erster sein kann.
Wie überzeugend und dazu noch glücklich ein neuer Intendant aussieht, aus dessen Sicht bisher alles glatt lief, kann man in diesen Tagen im Foyer des Hannoveraner Schauspielhauses sehen. Schulz verbreitet den Charme eines jungen Familienvaters, für den sich die Kärrnerarbeit hinter den Kulissen mit all den unterschiedlichen Familienmitgliedern gelohnt hat. Nach drei Premieren ist für ihn vor allem wichtig, dass Hannover mitzieht: „Das Publikum genießt es offensichtlich, dass wir mit jeweils völlig unterschiedlichem Theater überraschen und auf den schrillen Wedekind und Franz Wittenbrinks intelligente Unterhaltung jetzt die stille und doch eher komplizierte Goetz-Dramatisierung kam.“
Zur Spielzeiteröffnung gab es Franziska Paulhofers Inszenierung des selten gespielten Wedekind-Stücks „Franziska“. Es folgte der szenische Liederabend „Miles & More“ von Franz Wittenbrink und am Wochenende die Dramatisierung von „Irre“, Rainald Goetz’ Romanerstling. Die Uraufführung besorgte Jossi Wieler, der in den letzten Jahren zum Spezialisten für Bühnenadaptionen einer für das breite Publikum eher schwierigen Gegenwartsliteratur geworden ist. Der Zufall will es, dass in den Achtzigerjahren, als Wieler und Schulz in Heidelberg als Regisseur und Dramaturg zum ersten Mal durchstarteten, das Bild aus Klagenfurt mit Rainald Goetz’ aufgeschlitzter Stirn durch die Medien geisterte. Parallel zur Selbstattacke mit der Rasierklinge erschien „Irre“, von dem Goetz jetzt seine erste Stückfassung erstellt hat. In der endgültigen Version auf der Bühne geht es fast ausschließlich um den Wahnsinn einer Psychiatrie, in der Ärzte so irre sind, wie ihre Patienten nicht sein können.
„Irre“ war Goetz’ Befreiungsschlag nach dem Medizinstudium und dem Praktischen Jahr an der Nervenklinik der Uni München. Er spielt mit der Grenze von Sein und Irresein und lässt den jungen Assistenzarzt Raspe zwischen Arzt- und Patientenwelt taumeln. Dass Raspe nachts die vorgezeichnete Berufsspur verlässt und im Punk ein neues Künstlerdasein sucht, markiert Goetz’ Aufbruch in den Rave.
In Hannover spielt das alles keine Rolle. Es geht lediglich um die Welt, die Raspe hinter sich lässt. Eine Welt, die nun als Ärzte-und-Pfleger-Tross erscheint. Jossi Wieler lässt diesen Tross in einem abschüssigen Hörsaal wuseln, als sei ein Schwarm Insekten unterwegs. Da wird aus der jungen Krankenschwester mit ihrer Liebe zu einem Heroinabhängigen das Slapstick-Girl, dem die Flügeltüren um die Ohren schlagen. Und da trippelt die schnelle psychiatrische Eingreiftruppe immer wieder steile Treppchen hoch und runter, um in Verschnaufpausen auf der Hühnerleiter Mensaessen wegzufuttern. Geht es allerdings um die Patienten, sagen die abstürzenden Ärzte nur „Haldol“ und meinen Haloperidol, mit dem man Menschenseelen auf Sparflamme setzen kann. Oder mit Elektroschocks.
Wieler formiert die seltsamen Menschen in weißen Kitteln immer wieder zu engen Pulks in kleinen Räumen. Da quetschen sie sich dann aneinander vorbei, referieren Fallgeschichten, linken sich und lenken davon ab, dass sie selbst die eigentlichen Patienten dieser Aufbewahrungs- und Ruhigstellungspsychiatrie sind. Matthias Neukirch darf ein „Wir duzen uns hier alle, ich heiße Waldemar“-Doktor Bögl sein und als Internist unter den Psychiatern am besten mobben. Und Moritz Dürr ist ein Chefarzt, der mal kurz den verdinglichten Patienten vorführt.
Nur. Aus dem Ganzen ist nicht mehr als das zahnlose Arrangement eines Erzählstrangs von „Irre“ geworden. Man merkt, dass Jossi Wielers Annäherung an schwierige Stoffe schon immer ein riskantes Unternehmen war. Als er Elfriede Jelineks Robert-Walser-Umkreisung „er nicht als er“ für die Salzburger Festspiele inszenierte, kam großes Theater dabei heraus. Mit seiner Adaption von Gisela von Wysockis „Abendlandleben“ in Basel stürzte er allerdings ab. In Hannover bleibt er in respektvoller Distanz zum frühen Goetz stehen, als habe der Blick zurück in die Achtzigerjahre und auf den Beginn einer extraordinären Autorenbiografie ihn zusammenzucken lassen.
Das Ergebnis ist ein farbloser Fabian Gerhardt in der Rolle von Raspe, Rainald Goetz’ Alter Ego. Er ist lediglich ein Getriebener im Ärztestab. Nur in zwei Szenen am Anfang und zum Schluss scheint er sich an den eigenen Haaren aus dem Psychiatriesumpf gezogen zu haben. Dann ist Gerhardts Raspe/Goetz ein melancholischer Entertainer und dirigiert sanft Lichter und Sounds. Irgendwie ist man in diesen beiden Szenen dann allerdings doch im neuen Jahrhundert und mitten in der Künstlichkeit sich selbst inszenierender Protagonisten des Kulturbetriebs gelandet.
Und von hier aus kann es für das Schauspiel der klugen Köpfe auch weitergehen, falls tatsächlich geschehen sollte, was Wilfried Schulz beschwört. In Hannover soll zugespitzter und radikaler weitergeführt werden, was in Heidelberg und Basel begann. Schulz selbst bezeichnet das als Konzept des weiten Blicks und der weiten Wege. Projekte entstehen oft über Jahre hinweg und nach langen Diskussionsprozessen. Dazu hat er so unterschiedliche Dramaturgen wie Regina Guhl (bisher am Hamburger Thalia-Theater) und Matthias Pees von der Berliner Volksbühne um sich versammelt. Im Fall von „Irre“ war Pees dramaturgischer Mitarbeiter. Der Diskussionsprozess allerdings scheint zu kurz gewesen zu sein. Oder zu lang.
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