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Exerzitien statt Ekstase

Wortkarge Vereinigung auf der Ikea-Liege: Marcus Lauterbachs Debütfilm „Verzweiflung“ ist eine hell ausgeleuchtete Versuchsanordnung über Schuld und Sühne in der Stadt Berlin. Nina Petri und Sylvester Groth spielen die Hauptrollen

Ulrike heißt, wie wir später erfahren, die nicht mehr ganz junge und stets bitterernst dreinblickende Frau. Sie kommt aus dem Nichts, bezieht eine möblierte Wohnung, in der sich unausgepackte Umzugskartons stapeln. Wenn sie kleine Kinder sieht, verfällt Ulrike in eine pathologisch anmutende Starre, schlägt die Hände vors Gesicht oder wird sogar von Würgeanfällen geschüttelt. Am hellichten Tag spricht sie in einem Lokal den erstbesten Mann an. Als Background-Musik der wie eine Bestrafung inszenierten Kopulation hat sie eine Spieluhr-Variante des Kinderliedes „Maikäfer, flieg“ aufgelegt.

Spätestens hier spricht der Volksmund im Kopf des Zuschauers: „Mit der stimmt doch was nicht!“ Richtig: Ulrike hat ein Geheimnis. Und wer eins und eins zusammenzählen kann, wird zu dem Schluss kommen, dass diese Frau eigentlich nur aus dem Knast kommen und dieser Knastaufenthalt irgendetwas mit Kindern zu tun haben kann.

Kindsmord! Ursünde! Auch richtig, fast jedenfalls. Ulrike ist wegen Totschlags an ihrem eigenen Kind verurteilt worden. Die Variante von einem Unfall wollte ihr der Staatsanwalt nicht abnehmen. Wir schon – immerhin ist die Rolle mit Nina Petri besetzt. Neben Ulrike gibt es auch noch Sigs alias Siegfried alias Sylvester Groth – auch er eine gezeichnete Kreatur. Parallel zur Rückkehr Ulrikes erleben wir seine Trennung von Frau und Kind und den Auszug aus dem gemeinsamen Heim. Außerdem liegt sein Vater im Sterben. Wie es der Zufall bzw. das Drehbuch so will, bezieht Sigs ausgerechnet die Wohnung neben der mutmaßlichen Kindsmörderin. Und wird umgehend auf der Ikea-Liege zum Geschlechtsakt genötigt.

Zwischen den beiden entwickelt sich eine merkwürdige Beziehung, in der zunächst mehr gevögelt als gesprochen wird. Diese körperlichen Vereinigungen vollziehen sich stumm, kalt, bei voller Deckenbeleuchtung und ohne ein Anzeichen von Lustgefühl. Nach und nach macht sich Sigs an Recherchen über seine Partnerin, gesteht sich und ihr eine gewisse Zuneigung ein. Die neue Qualität der Beziehung erfährt schließlich ihre Materialisierung: Schwangerschaftstest positiv.

Marcus Lauterbach hat einen sehr deutschen Film gedreht: kühl und kühn in einem. Knapp und präzise erfolgt die Zeichnung der Charaktere, sie erhalten gerade so viel Hintergrund wie nötig, eine moralische Wertung oder psychologische Erklärung ihres Handelns wird gar nicht erst in Angriff genommen. Diesem lakonischen Stil verdankt der Film seine stärksten Momente, er verleiht ihm bisweilen jene phänomenale Wucht, die im deutschen Kino nach Fassbinder so selten geworden ist. In den schwarzweißen 75 Minuten kommt kein einziges auch nur zaghaft lächelndes Gesicht vor die Kamera. Berlin erscheint als unwirkliche Stätte, in der jede Handlung oder Begegnung vom heiligen Ernst der Selbstverachtung geprägt ist.

Andererseits geht „Verzweiflung“ die protokollarische Strenge eines Robert Bresson völlig ab. Die Bilder Roland Dressels triefen geradezu von unserer Kulturlast, denken in jedem Bild die deutsche Romantik mit. Nie kämen Regie und Kamera auf die Idee, sich am goldenen Schnitt zu vergehen. Auch im Umgang mit der Körperlichkeit reizt der Vergleich zum französischen Kino. Lümmelt Caroline Ducey mit ihren Liebhabern in Catherine Breillatts „Romance“ quasselnd und quarzend auf dem Bett und spielt zwischendurch gelangweilt mit deren Gemächt, so prallen die Liebenden in Marcus Lauterbachs Film wortlos aufeinander, ihre Kopulationen sind eher Exerzitien als Ekstasen.

CLAUS LÖSER

„Verzweiflung“. Regie: Marcus Lauterbach. Mit Nina Petri, Sylvester Groth, 75 Min., Moviemento, Kottbusser Damm 22

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