Tunnelblick auf Bundfalten

Wahre Lokale (44): Das von Stiernacken und Sport-BHs geprägte „Exil“ in Osnabrück

Kirchen über Kirchen gongen sich in die grenzwestfälischen Niedersachsen-Schädel

Da gibt es diese kleine, beschauliche Stadt, durch die leise ein Fluss namens Hase rauscht. In den Museen der Stadtmauer warten alte, benutzt aussehende Folterinstrumente auf sich gruselnde Kindergruppen. Kirchen über Kirchen gongen sich allsonntaglich in die grenzwestfälischen Niedersachsen-Schädel. Der aufregendste Stadtteil heißt „Wüste“. Und die Lokale heißen „Why not?“, wenn sie von den beiden Schwulen, und „Exil“, wenn sie von den restlichen Frustrierten besucht werden.

Dann gibt es da mich. Jung, rücksichtslos, lange noch keine 20, Colaflaschenbodenbrille mit dem deutlichen Trend Richtung Kontaktlinsen. Ich also ins „Exil“. Fast jedes Wochenende. Weil, schwul war ich ja nicht. Von den Kontaktlinsen erhoffte ich mir ’ne Menge. Und die andere mögliche Spelunke befand sich auf einem nur notdürftig mit Gras bewachsenem Müllberg, zu dem man erstens nur donnerstags und zweitens hintrampen musste. Mit irgendwelchen bekifften Osnabrückern mittrampen, kann einem jedoch den ganzen Abend versauen. Also ich am Wochenende ins „Exil“. Zuerst eine Flasche Weißwein von Wähl-ne-Pizza, danach los, aus der Wüste ins „Exil“, zehn Minuten per Velosolex.

Das „Exil“ – treppauf waren die Wände so lange mit dem Cover der zweiten Roxy-Music-Platte bemalt, bis es fast wieder Mode wurde – war so dunkel, dass alle aussahen wie Landeier zwischen 20 und 30. Oder lags an den neuen Kontaktlinsen?

Stiernackige Männer in Bundfaltenhosen beherrschten das Geschehen, Wicküler-Flaschen zwischen den Zähnen, den VfL-Schal eng um den Hals gewickelt, das Lila biss sich kreischend mit den Jeans-Tönen. Die Damen trugen postnatal gelegte Löckchen, Silberrandbrillen und Sport-BHs. Getanzt wurde im „Exil“ auf der silbern gepflasterten Tanzfläche, ein Spiegel in Sport-BH-Höhe an der Wand, umringt von kleinen Stehtischen mit leeren Wicküler-Flaschen, an denen die Exilanten lehnten und Dialoge führten wie: „Wie isses denn heute?“ – „Scheiße“.

Denn das war das eigentliche Dilemma dieser kleinen Provinzdiskothek: Richtig viel passiert einfach nicht einer Stadt, die die absolute Lieblingsstadt der Marktforschungsinstitute Deutschlands ist (weil man hier die durchschnittlichsten Umfrageergebnisse einholen kann). Also lehnte die durchschnittliche Jugend – mitten drin ich mit zwinkernden Augen wegen der Linsen – samstags an den Stehtischchen im „Exil“ und mopste sich.

Darum möchte ich hier heute die Theorie aufstellen, dass das unschöne Aufkommen der so genannten Gruftie-Welle in den Achtzigerjahren – die laut mancher Medienberichte immer noch nicht ganz verebbt ist – in einem direkten Kausalzusammenhang mit der Größe der Stadt steht, aus der sie schwappte. Grufties kommen originär aus Kleinstädten wie Osnabrück, mit ihren vielen, gut umsorgten Friedhöfen, den beiden Kneipen und der langen, langen Nacht – Polizeistunde 1 Uhr, denn Osnabrücker Polizisten brauchen viel Schlaf für ihren aufregenden nächsten Tag. Da muss man doch depressiv werden! So auch ich, übrigens. Den Kajalstift noch etwas unhandlich direkt über die neuen Linsen geschmiert und mir damit eine Art Tunnelblick geschaffen, stand auch ich deprimiert und mit der Musik von bekümmerten Engländern im Kopf im „Exil“. Lief hin und wieder durch den Tunnel zu dem DJ, der damals noch nicht „DJ Fatburner“ oder wieauchimmer hieß, sondern schlicht Thorsten, und wünschte mir noch mehr trauriges Zeugs. Oh, das war schon eine melancholische Zeit.

Allerdings, manchmal, um gerecht zu bleiben, wurde es auch richtig hot hot hot in dem dunklen Laden: Wenn der Besitzer die letzte Runde ausrief, die Tür vorne zuschloss und uns traurigen Verein hintenrum, an Hollandrädern und zerknüllten „Frischmilch von Axel“-Tüten vorbei weiterhin illegal in den Club ließ. Hei, war das aufregend. Wie in New York und Rio und vor allem London (home of sad English people) zusammen. Wir vergaßen fast, traurig zu gucken. Nach 1 Uhr illegal im „Exil“, Jungejungejunge. Allerdings machten wir das auch nur ein paar Mal mit, bis wir merkten, dass es eigentlich schnurzpiepe ist, ob man nun vor oder nach 1 Uhr im „Exil“ herumhängt und Flunsche zieht. Wenn wir dort herausgefegt wurden, gab es nur noch eine Zuflucht: die Nachttanke. Aber dort lief ja nicht mal Gruftie-Musik. JENNI ZYLKA