: Ein normierter Aufstand
Der Tag ist in geordneten Bahnen verlaufen: 200.000 Leute versammeln sich rund um das Brandenburger Tor. Pfiffe gegen Stoiber, Polizisten gegen Antifa-Plakate, aber alle gegen Neonazis
Reichstag, 9.00 Uhr: Der Bundestag gedenkt der Opfer der Pogromnacht. Damals sei weggesehen worden aus Angst, aber auch aus Gleichgültigkeit, kritisiert Bundestagspräsident Thierse. Nun gelte es gegen Rechtsextremismus Solidarität zu zeigen.
Potsdam, 12.00 Uhr: Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) gibt zu bedenken, es gebe zahlreiche Bürger, die sich gezwungen fühlten, an der Veranstaltung teilzunehmen. Man müsse in Deutschland zu einer Sache „Nein“ sagen können.
Fraenkelufer, Kreuzberg, 13.00 Uhr: Eine kleine Gruppe von acht Christen schweigt fünf Minuten vor der Synagoge, um den Bau symbolisch zu schützen. Bis Freitag, 22 Uhr, wollen sie das Ritual stündlich wiederholen.
Hector-Petersen-Oberschule, Kreuzberg, 13.20 Uhr: „Ich geh lieber mit meinen Leuten chillen“, meint Skater Carsten (17). Die Demo sei doch uncool.
Quartier 206, Friedrichstraße, 13.45 Uhr: Kaum ein Besucher der noblen Passage will zur Demo. „Ich habe heute Nachmittag noch Tennisstunden“, entschuldigt sich eine elegante ältere Dame. Auch Boris Becker und Steffi Graf haben unterdessen ihre Teilnahme abgesagt.
Oranienburger Straße, 14.00 Uhr: Der Ort, an dem der Zug beginnen soll, ist bereits abgesperrt. Straßenbahnen werden umgeleitet. Die Polizei hat auf den Einsatz von Wasserwerfern und ähnlichem Gerät verzichtet. Es habe im Vorfeld keine Anzeichen für Krawalle gegeben.
Pariser Platz, 15.32 Uhr: Aus den Boxen des Preußen-Pilsner-Standes trällert der Hit „Zieh dich aus, kleine Maus“. Gegenüber dreht sich ein ganzes Schwein am Spieß. Zum Volksfest fehlt nur noch eins: die Bevölkerung. Penibel kontrollieren zwei Beamte einen 74-Jährigen, der mit einem Schild gegen das Sinken seiner Rente protestieren will. „Wir gehen auf Nummer sicher“, erklärt ein Beamter. Auch ein Aufstand hat in geordneten Bahnen zu verlaufen.
Pariser Platz, 16.00 Uhr: Die Sitzbänke für das gemeine Volk werden freigegeben. Nach wenigen Minuten sind sie besetzt.
Auguststraße, 16.26 Uhr: Bundespräsident Rau und Bayerns Ministerpräsident Stoiber betreten die Synagoge durch den Hintereingang: „Polizei und Verfassungsschutz, die Instrumente des Staates, müssen eingesetzt werden“, sagt Stoiber.
Koenigsallee, Grunewald, 16.30 Uhr: Janina und Katja lassen ihr Transparent für sich sprechen: „Wir sind für Menschenrechte und gegen Rassismus!“ In einem Schweigemarsch ziehen etwa 300 Schüler mit Kerzen zum Bahnhof Grunewald. Dabei auch fünfzig Polizeischüler der Landespolizeischule in Uniform. Der Marsch folgt der Strecke, die viele Juden im Dritten Reich zum Güterbahnhof zu den Deportationszügen gehen mussten.
Café Cinema, Hackescher Markt, 16.30 Uhr: „Wir gehen vielleicht später noch hin“, lacht Susanne Backmann, „aber hier ist es gerade so nett.“ Die anderen an ihrem Tisch wollen spätestens in einer halben Stunde los. Die Bedienung bringt eine neue Runde Tee.
Pariser Platz, 16.35 Uhr: Die grüne Europaparlamentarierin Claudia Roth humpelt auf Krücken zum VIP-Bereich. Doch ihr fehlt der richtige Ausweis. Die Sicherheitsbeamten wollen sie zunächst nicht durchlassen.
Neue Synagoge, 16.45 Uhr: Rau, Friedman, Thierse und Schröder legen Kränze nieder. In den Zufahrtsstraßen stehen Demonstrationswillige frustiert herum. Die Polizei verweigert ihnen wegen fehlender Demo-Pässe den Durchgang. Es ist eng, die Stimmung gereizt.
Oranienburger Tor, 16.45 Uhr: Eine Gruppe Jugendlicher trägt Plakate mit den Orginallogos der Parteien: „Bleiberecht für alle, CSU.“ „Sprengt alle Abschiebeknäste, FDP“. „Antisemitismus und Rassismus kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Die Mitte sind wir, SPD“.
Pariser Platz: 16.47 Uhr: Ein heftiger Regenguss. Der Platz ist voller Menschen.
Neue Synagoge, 17.00 Uhr: Andreas Nachama begrüßt den Bundestagspräsidenten und dankt der Grünen-Vorsitzenden Renate Künast dafür, dass sie den Stein ins Wasser geworfen habe. Nachama begrüßt Edmund Stoiber. Pfiffe. Dann strömen die Prominenten auf den freigehaltenen Platz, gut abgeschirmt von Personenschützern. Grüne Ballons mit der Parole „Nein zu Neonazis“ steigen in den Abendhimmel. Die Polizei zählt hier 40.000 Teilnehmer.
Levetzowstraße, vor dem Denkmal der ehemaligen Synagoge, 17.16 Uhr: Zur Kundgebung der Antifaschistischen Kundgebung Moabit haben sich mehr als 1.000 Menschen versammelt, deutlich mehr als in den vergangenen Jahren. In einem Redebeitrag der Demo-Organisatoren wird der Deportation der Jüdinnen und Juden aus Moabit gedacht. Gleichzeitig grenzt sich die Rednerin deutlich vom „Aufstand der Anständigen“ ab. Wer von einer „deutschen Leitkultur“ rede, sei kein Bündnispartner für antifaschistischen Protest.
Pariser Platz, 17.35 Uhr: Die ersten Promis trudeln ein. Antje Vollmer kommt, die Fotografen und Kameramänner stürzen sich auf sie. Am Rande der Bühne wird Edmund Stoiber interviewt. Sabine Christiansen vermeldet 50.000 Teilnehmer. Applaus.
Pariser Platz, 17.50 Uhr: Durchsage: Der Platz ist voll. Alle weiteren Kundgebungsteilnehmer werden aufgefordert, sich von Westen her im Tiergarten zu versammeln. Stoiber erscheint auf der Leinwand. Eine Menge ruft: „Heuchler“. Sabine Christiansen versucht zu beruhigen. Die Antifa entrollt ein riesengroßes Transparent: „Nazis morden. Der Staat schiebt ab.“
18.00 Uhr: Die Polizei reißt das Transparent herunter und zählt 100.000 Teilnehmer.
Friedrichstraße, 18.05 Uhr: Junge Leute projizieren den Spruch „Nazis morden, der Staat schiebt ab. Deutschland halt‘s Maul“ an eine Hauswand. Die Polizei beschlagnahmt den Projektor umgehend und nimmt zwei Jugendliche fest.
Pariser Platz, 18.09 Uhr: Gysi raucht Zigarette. Neben ihm sitzt Müntefering mit einem Zigarillo. Die beiden lachen.
18.15 Uhr: Zehn uniformierte Polizisten gehen immer wieder gezielt in die Masse und holen kritische Transparente herunter.
18.25 Uhr: Rau beginnt seine Rede. Schröder, Fischer, Diepgen, Stoiber und Merkel zeigen auf der Bühne ihre grimmigen Gesichter. Sie verziehen sie keine Mine, sondern klatschen nur an den richtigen Stellen. Einzig eine Gebärdendolmetscherin bringt etwas Bewegung.
Friedrichstraße, 18.30 Uhr: In der U-Bahn sind Kontrolleure unterwegs. Sie stoppen viele Schwarzfahrer auf ihrem Weg zur Demo.
Moabit, 18.45 Uhr: Durchsage: 2.000 Demonstranten.
Pariser Platz, 18.45 Uhr: Die Polizei vermeldet 200.000 Teilnehmer am Brandenburger Tor. Dort erntet Paul Spiegel den größten Applaus, als er Politiker für ihre fremdenfeindlichen und missverständlichen Sprüche kritisiert.
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