: Mann liebt Fleisch
Mach uns den Totmacher: Marius von Mayenburgs „Haarmann“ lag fünf Jahre auf Eis. Jetzt ist Hannover reif für den liebeskranken Massenmörder
von JÜRGEN BERGER
Begegnen möchte man keinem von ihnen. Oder würden Sie gesteigerten Wert auf nähere Bekanntschaft mit William G. Bonin legen, der als „Freeway Killer“ Ende der Siebzigerjahre mindestens vierzehn Knaben in Südkalifornien vergewaltigt und getötet hatte?
Nichts beschäftigt das kollektive Gedächtnis mehr und nichts spornt Schauspieler derart zu darstellerischen Höchstleistungen an wie Serienmörder. Mario Adorf war selten so überzeugend wie in Robert Sidomaks „Nachts, wenn der Teufel kam“. Peter Lorre blickte nie so nachhaltig wie in Fritz Langs „M“. Anthony Hopkins wird wohl immer Hannibal the cannibal bleiben. Und Götz George? Seit Romuald Karmakars filmischer Studie über Fritz Haarmann, der Mitte der Zwanzigerjahre mindestens 24 Knaben die Kehle durchbiss, sie zerstückelte und stückweise entsorgte, kann er noch so verkrampft an seinem Comeback als Schimanski arbeiten, überleben wird er wohl als der Deutschen liebster Totmacher.
Dass George ein besonderes Verhältnis zu Hannover hat, darf bezweifelt werden. Hannover dagegen hat auf jeden Fall ein besonderes Verhältnis zu Serienmördern. Hier „wirkte“ Fritz Haarmann. 1924 wurde ihm in der Leinestadt der Prozess gemacht, während gleichzeitig der künftige Massenmörder Hitler in München wegen Hochverrats vor Gericht stand. Deutschland war damals mehr an der grausigen Geschichte aus dem sonst eher langweiligen Hannover interessiert, wo man ob dieser plötzlichen Berühmtheit nicht unbedingt erfreut war.
Heute ist das natürlich anders. In Zeiten des Hannibal-Booms dürfte Haarmann selbst für Hannoveraner eher eine Kuriosität sein, die man denn auch mal im Theater bestaunen kann. Seit dem Wochenende ist das aufgrund eines Stückes von Marius von Mayenburg möglich: „Haarmann“ wurde bereits 1995 fertig gestellt, also noch bevor von Mayenburg mit „Feuergesicht“ zum Autor des Jahres avancierte. Als dann aber Karmakars „Der Totmacher“ in die Kinos kam, legte er sein Stück auf Eis. Erst jetzt hat er den Text für Wilfried Schulz' neues Hannover-Schauspiel bearbeitet und sich dabei vor allem von der filmischen Verhörsituation abgesetzt.
Haarmanns seelische Zerklüftung soll nicht allein durch die Situation im Untersuchungszimmer des damaligen psychiatrischen Sachverständigen Professor Schultze lebendig werden. Von Mayenburg hat einen szenischen Reigen geschrieben und dabei einen zweiten Handlungsstrang herausgeschält: das Verhältnis des homophilen Fleischhändlers Haarmann zu seinem undurchsichtigen Liebhaber Hans Grans. Für den schaffte Haarmann an, verkaufte sowohl fleischliche Überreste gemeuchelter Knaben als auch deren Kleider. Von Mayenburg lässt offen, ob Haarmann zu Recht eigene kannibalistische Neigungen abstritt. Umso deutlicher wird, dass die sensationsgeilen und lüsternen Nachbarn des Serienmörders zu Kannibalen wurden, wenn sie Fleisch beim netten Herrn von nebenan einkauften.
Wie aber den Haarmann darstellen, lautete die alles entscheidende Frage für Michael Talke, der das Stück jetzt zur Uraufführung brachte und die Szenen entschieden verschränkte. Die Vorlage erlaubt die Erkundung Haarmanns in Form eines sukzessive voranschreitenden Stationendramas. Das war Talke zu wenig. Also hat er die Spielfläche im Hannoveraner „ballhofeins“ quer gelegt. Die Zuschauer blicken von einigen lang gestreckten Reihen aus auf eine Rampe, auf der sich jederzeit alles ereignen kann und Haarmanns Leben inklusive des Prozesses wie im Zeitraffer abläuft.
Hannovers aktueller Haarmann (1997 gab es am Niedersächsischen Staatstheater die Bühnenversion vom „Totmacher“) heißt Wilhelm Schlotterer. Er spielt den Killer als leicht entrückten Menschen, der im Grunde nach Liebe sucht und dabei häufig wie ein Mondsüchtiger blickt. Vor allem mit einem Dauergrinsen müht Schlotterer sich den Eindruck zu erwecken, in diesem Haarmann gehe es entschieden dämonisch zu. Stück und Inszenierung sind damit allerdings nicht zu retten. Der Hannoveraner Haarmann des neuen Jahrhunderts bleibt irgendwo zwischen Sozialparabel und naturalistischem Drama stecken.
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