: Autobiografie eines Schlüsselbundes
Es kommt der Tag, von dem an der Dachboden, der Keller und andere wichtige Räume deines Lebens für immer verschlossen bleiben werden . . .
Es ist jedesmal dasselbe – wenn es zu spät ist, dann fällt mir ein, was ich hätte machen sollen. So war es, als meine Brieftasche gestohlen wurde, aus meiner Jacke in den Umziehräumen beim Fußball: Führerschein, Fahrzeugschein, Taxischein, die seltene Eintrittskarte eines Multimediafestivals in London, ganz zu schweigen von dem Geld.
Doch diese 70 Mark wiederum waren unwichtig gegenüber den Scherereien, den vielen Wegen und Kosten; wenigstens EC-Karte und Visakarte hatte ich noch in der gleichen Nacht sperren lassen. Ach hätte, hätte . . . hätte ich doch meine wichtigen Dokumente zu Hause gelassen, so wie ich es seitdem mache. Eine Kopie des Führerscheins reicht völlig, der Ärger mit der Polizei bei einer Kontrolle ist nicht zu vergleichen mit dem, das Original neu besorgen zu müssen.
Und nun der Schlüsselbund. Ein Freund hat einen kleinen Anhänger einer Firma an seinem, auf dem steht eine Nummer und dass man den Bund bitte, falls gefunden, in einen beliebigen Briefkasten werfen möge. Besagte Firma stellt den Schlüsselbund dann gegen eine geringe Gebühr zu. Verdammt! Hätte ich mir doch beizeiten einen solchen Anhänger zugelegt! Jetzt ist es zu spät. Selbst wenn jemand den Bund findet – er kann nicht wissen, was er damit machen soll.
Ich kam aus dem Keller, fasste in die Tasche, aber der Schlüsselbund war weg. Ich schaute an die Türschlösser, die ich zuletzt benutzt hatte, doch auch da steckte nichts mehr. Ich ging noch mal den Weg ab, den ich davor mit dem Fahrrad gefahren war. Aber nirgends sah ich das Rot des einen Schlüssels oder ein silbriges Blinken. Der Schlüsselbund blieb verschwunden. Aus der Tasche gerutscht? Es schien die einzige Erklärung.
Früher verlor ich meine Schlüssel sehr oft, aber in den letzten fünf Jahren ging es eigentlich. Doch jetzt wieder dieser viele, unnötige Ärger. Vielleicht fängt es wieder an? Man wird ja auch im Alter wieder kindisch. Vielleicht waren diese fünf Jahre meine einzige Lebenszeit, in der ich Herr über meinen Schlüsselbund war. Es ist so traurig, wenn ich mir vorstelle, wie der Schlüsselbund dort draußen allein in der Welt liegt. Alle Schlüssel daran haben ihre Bedeutung verloren. So wie die Fotos in den Fotoalben einer verstorbenen Letzten ihrer Familie. Niemand kennt mehr die Onkel und Tanten darin, die weihnachtlichen Tannenbäume auf den alten Fotos interessieren genauso wenig wie der Bauernhof oder die Erzgebirgsquelle und der vor dem Auto Posierende. Und wenn sie doch jemandes Neugierde wecken, dann ist es zu spät. Wie bei meinen Schlüsseln: Würde es jemanden geben, der sie neugierig in die Hand nähme, ihre Bedeutung bliebe ihm verborgen.
Es ist das Finanzielle zum einen: Zwei Garagenschlösser werde ich knacken, mindestens sieben andere Schlüssel à sechs Mark nachmachen lassen müssen. Ganz abgesehen von den ärgerlichen Wegen, um verbliebene Ersatzschlüssel für das Nachmachen bei Freunden und Bekannten auszuborgen. Der für den Briefkasten, den kann ich nicht nachmachen lassen. Dafür müsste ich die Nummer wissen, die darauf stand. Doch wer schreibt sich schon die Nummern ab, solange er die Schlüssel noch hat?
Es sind auch unnütze Schlüssel dabei gewesen. Wofür beispielsweise dieser eine war, zwischen den beiden runden, das habe ich längst vergessen. Ich habe mir für den Bund mein eigenes Koordinatensystem gemacht, runde, eckige, manche hatte ich mit bunten Kappen gekennzeichnet. Zum Beispiel einen rosafarbenen für den Raum, in dem der Kinderwagen unterstand. Rosa bringe ich immer mit Babys in Verbindung. Dann war da noch ein lilafarbener für ein Fahrradschloss. Wo das abgeblieben sein mag? Ein ganz kleiner Schlüssel war für einen ganz anderen Briefkasten, wo ich jahrelang meine Meldeadresse hatte. Diesen Briefkasten hatte ich von einem norwegischen Berg gestohlen. Auch der Dietrich, den in der DDR fast jeder Zweite am Schlüsselbund hatte, ist verschwunden. Die vielen Schlösser und Schlüssel, mit denen wir zu tun haben über die Jahre, die Räume, zu denen sie gehören: Ich erinnere mich an Dachböden oder an einen Keller, darin Trabbi-Teile, verschiedenster Kram. Als ich irgendwann einmal nachsah, war der Keller renoviert. Es gab neue Türen, alles, was darin war, war entsorgt.
Dann die Trabbi-Schlüssel. Sie werden schwer zu bekommen sein. Ich werde das Lenkradschloss auswechseln müssen. Für die Lenkradkralle, nun, das wird kein richtiges Problem sein. Diese Kralle hat ja damals auch den Diebstahl meines Wagens nicht verhindern können. Dann war da auch noch ein Anhänger aus Kunstleder, mit Metallchrom und emaillierter Aufschrift: „Trabant“. So einen werde ich bestimmt nie wieder bekommen.
Gleichzeitig versuche ich mir einzureden: Beruhige dich! Ärgere dich nicht, es ist doch nur ein Schlüsselbund. Doch der Ärger bleibt, bis ich mir denke, na ja, wenigstens kannst du noch drüber schreiben. Und da geht es mir schon besser. FALKO HENNIG
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