: Kein Nachwuchs für EuropaFrauen werden den Wohlstand sichernaus Stockholm REINHARD WOLFF
In der ersten Industrialisierungsphase waren es die Männer, die den Wohlstand aufbauten. In der nachindustriellen Ära werden die Frauen diese Rolle übernehmen. Nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch durch ihre Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen. Denn diese allein können zukünftigen Wohlstand sichern. Meint der dänische Soziologieprofessor Gösta Esping-Andersen in einem Bericht, der auf dem EU-Gipfel am Wochenende in Stockholm diskutiert werden soll.
Eine immer älter werdende Bevölkerung, ein stetig schrumpfender Anteil derer, die diese versorgen soll, dies ist mittlerweile auch von der EU als Wohlstandsgefahr erkannt worden. Einwanderung gilt als eine Lösung, Geburtensteigerung als die andere. 2,1 Kinder müsste statistisch jede Frau in der EU gebären, wollte man ohne Einwanderung auskommen. 1,48 sind es aktuell und kein Mitglieds- oder Kandidatenland – abgesehen die Türkei mit einer Marke von 2,4 – erfüllt das Soll.
Die schwedische EU-Präsidentschaft möchte den Umgang der Union mit Arbeitslosigkeit grundsätzlich wenden. Staatssekretärin Anna Ekström: „Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit soll durch einen Kampf für mehr Beschäftigung ersetzt werden.“ Heißt übersetzt: Die Frauen sind das teilweise ungenutzte „Beschäftigungspotenzial“, welches das ökonomische Wachstum anschieben soll, dass dann zu neuen Arbeitsplätzen führen kann.
Um die Zahl der beschäftigten Frauen zu erhöhen, müssen für sie Anreize geschaffen werden: Durch gleiche Löhne, ein Steuersystem, das die Beschäftigung beider Elternteile honoriert und einen Ausbau der Kinderbetreuung. Ekström: „Das ist der Weg, der Gleichberechtigung und Wirtschaftswachstum mit Geburtenzuwachs koppelt.“
In Schweden verweist man gerne auf das eigene Beispiel: Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben habe zusammen mit einem breiten System der Kinderbeutreuung dazu geführt, dass der Beitrag der Frauen zum Bruttonationalprodukt von 26 Prozent 1970 auf jetzt 44 Prozent gestiegen sei. Nutze man die Frauenarbeitskraft nicht aus, sei dies eine gewaltige „Verschwendung von Ressourcen“.
Innerhalb der EU klafft die Beschäftigungsrate von Frauen weit auseinander: von den Spitzenreitern in Skandinavien mit 66 bis 72 Prozent bis hin zu den Schlusslichtern Italien und Spanien mit knapp 38 Prozent. Dass die Länder mit der geringsten Frauenbeschäftigung auch gleichzeitig die mit der niedrigsten Geburtenrate sind, gilt Stockholm als Bestätigung für die Richtigkeit des eigenen Ansatzes.
Von den in der EU lebenden 123 Millionen Frauen zwischen 16 und 65 Jahren stehen derzeit nur 66 Millionen in einem entlohnten Arbeitsverhältnis. Doch von den 4 Millionen in den letzten zwei Jahren geschaffenen Arbeitsplätzen wurden immerhin 2,5 Millionen mit Frauen besetzt. Die Union ist auf dem richtigen Weg.
Die Französinnen sind optimistisch
aus Paris DOROTHEA HAHN
Die Frage: „Was tun mit Kindern, die noch nicht in die Vorschule gehen, deren Eltern aber schon wieder arbeiten?“, ist ein Dauerbrenner in Frankreich. Im Gegensatz zu Deutschland befassen sich nicht nur Elterngruppen und Stadtteilinitiativen damit, sondern sie ist auch Pflicht für die SpitzenpolitikerInnen quer durch alle Parteien. Dazu zwingen sie die französische Frauenbewegung und die Gewerkschaften. Seit Jahren verlangen sie lautstark nach stärkerer institutioneller und finanzieller Unterstützung beim Kinderkriegen und beim Kinderbetreuen.
Denn in Frankreich ist es selbstverständlich, dass berufstätige Mütter weiterhin ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen. 71 Prozent aller Frauen mit Kindern arbeiten außer Haus. Die gesetzlich vorgeschriebene Mutterschaftspause beträgt acht Wochen. Nach Ablauf dieser Zeit, in der es Lohnfortzahlung gibt, gehen viele Frauen wieder arbeiten. Andere bleiben noch zwei weitere Monate bei ihrem Baby. Doch ab dem vierten Lebensmonat kehren auch sie mehrheitlich an den Arbeitsplatz zurück. Niemand käme deswegen auf die Idee, sie „Rabenmütter“ zu schimpfen. Die „Quotenpolitik“ verstärkt das öffentliche Bewusstsein dafür, dass der Platz von Frauen ebenso in der Arbeitswelt ist wie der von Männern.
In der französischen Provinz gibt es ein relativ gut ausgebautes Netz von Krippen und Babytagesstätten. Das Problem Kleinkinderbetreuung stellt sich vor allem in den Großstädten Paris, Lyon und Marseille. Dort müssen Großeltern, SchwarzarbeiterInnen und NachbarInnen die Lücke füllen. Nach Angaben der Regierung fehlen allein im Großraum Paris eine halbe Million Krippen- und Kindergartenplätze, nach Schätzung unabhängiger Gruppen sogar das Doppelte.
Im vergangenen Oktober verabschiedete die französische Nationalversammlung einen „Investitionsfonds für Krippen“. Er ist mit 1,5 Milliarden Francs ausgestattet, die den Gemeinden beim schnellen Ausbau ihres Angebots helfen sollen. Darüber hinaus verstärkten die Parlamentarier die verschiedenen finanziellen Kinderbeihilfen, von denen die meisten einkommensabhängig sind.
Dass Französinnen mehr Kinder bekommen (laut Statistik sind es 1,75 pro Frau), als andere EU-Europäerinnen, hat freilich nicht nur mit Politik und Geld zu tun, sondern auch mit der geistigen Einstellung. Angesichts der Geburtenzahlen des Jahres 2.000 – als in Frankreich 778.900 Babys, fünf Prozent mehr als im Vorjahr, zur Welt kamen – sprechen Pariser PolitikerInnen, die sich nebenbei selbst ein wenig loben wollen, bereits von einem „zurückgefundenen Zukunftsvertrauen“ ihrer Landsleute.
Abtreibung ist ein Kinderspiel
aus Prag ULRIKE BRAUN
Helena wollte kein zweites Kind. Dazu reichten ihr weder Zeit, Geld noch Nerven, und ihr Mann wohnte schon längst mit einer anderen Frau zusammen. „Eigentlich war es für mich keine besonders schwere Entscheidung abzutreiben“, meint Helena heute. „Das macht hier doch sowieso fast jede.“ Die TschechInnen haben gegenüber Abtreibungen ein ausgesprochen liberales Verhältnis. Noch vor zehn Jahren kam auf jede Geburt eine Abtreibung. „Vor der Revolution gehörte die Tschechoslowakei zu den Ländern, die die Weltgesundheitsorganisation als Länder ohne Verhütungsmittel bezeichnete“, erklärt dazu Petr Weiss vom Sexuologischen Institut der Prager Karlsuniversität.
In den vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl der Abtreibungen so schlagartig zurückgegenagen, dass Tschechien ein dickes Lob von der Weltgesundheitsorganisation bekam. Der Grund: Nun gab es die Antibabypille und fast die Hälfte aller Tschechinnen nimmt sie. Diese hohe Zahl zeugt von einer neu entdeckten Verantwortung gegenüber der eigenen Fortpflanzungsfähigkeit. „Kinder will ich schon, aber doch noch nicht jetzt,“ sagt die 24-jährige Jurastudentin Jana. „Meine Mutter hat mich mit 20 gekriegt, aber damals gab es halt nichts Besseres zu tun.“
Aber es sind nicht nur die neue Wege der Selbstverwirklichung, die Kinder hinten anstehen lassen. „Faktoren wie Stress, soziale Unsicherheit oder finanzielle Probleme führen bei vielen zu einer Existenzangst“, glaubt Petr Weiss. „Die Frauen überlegen sich jetzt viel genauer als früher, ob sie überhaupt Kinder haben sollen.“
Nur fünf Prozent aller Männer und vier Prozent aller Frauen meinen, dass Abtreibungen in keinem Fall zulässig sein sollten. Dagegen sind 66 Prozent aller Tschechinnen der Meinung, dass ihr Bauch ihnen gehöre. Das Gesetz sieht dies auch so. „Eine Schwangerschaft kann hier ohne viel Aufhebens bis zur zwölften Schwangerschaftswoche abgebrochen werden“, erklärt Gynäkologin Katerina Bittmannová. Im Durchschnitt kostet eine operative Schwangerschaftsunterbrechung um die 180 Mark, die Kasse zahlt nur in wenigen Fällen. „Vielleicht mache ich mir auch deshalb keine Vorwürfe über meine Abtreibung, weil alles so glatt ablief“, erzählt Helena. „Ich ging zu meinem Frauenarzt, und wir machten auf der Stelle einen Termin aus.“
„Die Frau arbeitet viel mehr als der Mann“
Interview MICHAEL BRAUN, Rom
taz: Noch heute glauben viele Deutsche, Italien sei ein mit Bambini reich gesegnetes Land. Doch Italien hat weltweit die niedrigste Geburtenrate.
Katia Bellillo: Dies ist zunächst einmal gar nichts Negatives. Die Frauen haben sich ihren Platz in der Arbeitswelt und im öffentlichen Leben erobert. Außerdem gehen sie bewusster mit ihrer Sexualität und auch mit der Frage der Mutterschaft um. Sie treffen heute eine Entscheidung für das Kind, während früher Vater- und Mutterschaft als von religiösen Prinzipien diktiertes Schicksal erlebt wurden. Positiv ist auch, dass die Frauen heute später Mütter werden – dass sie bewusst erst Ausbildung oder Studium zu Ende bringen und den Eintritt ins Arbeitsleben vollziehen.
Aber viele Frauen versagen sich doch auch den Kinderwunsch.
Die ganze Last der Familie fällt weiterhin auf die Frauen. Sie haben sich geändert, die Männer dagegen weit weniger, weniger auch als in anderen europäischen Ländern. Summiert man Beruf und Hausarbeit, dann schuftet die italienische Frau weit mehr, da sie praktisch allein für die familiäre Betreuung zuständig ist. Italiens Frauen kommen im Schnitt insgesamt auf 60 Stunden Arbeit pro Woche, Männer dagegen nur auf 45. Ein zweiter Negativfaktor besteht darin, dass die Politik die Frauen allein ließ. In der Sozialpolitik herrschte ein familienorientierter Ansatz vor, der die Fürsorge einfach den Familien und damit den Frauen aufbürdete, ohne jede öffentliche Unterstützung, ob das nun die Altenpflege, die Betreuung von Behinderten oder die Erziehung von Kindern betraf. Erst die seit 1996 regierende Mitte-links-Koalition hat hier eine Wende vollzogen.
Was haben Sie konkret für die Frauen verändert?
Wir haben den Familienurlaub eingeführt – die Möglichkeit für Mutter oder Vater, sich während der ersten acht Lebensjahre des Kindes für bestimmte Zeiträume beurlauben zu lassen. Vor allem aber haben wir eine umfassende Reform der sozialen Dienste verabschiedet, die zur flächendeckenden Einführung von Betreuungsstrukturen führen soll. Das wird zugleich Arbeitsplätze im sozialen Bereich schaffen, die für Frauen interessant sind.
Viele Frauen können sich Nachwuchs schlicht nicht leisten.
Auch auf diesem Feld war die Politik jahrzehntelang abwesend. Es machte bei der Lohnsteuer kaum einen Unterschied, ob man Kinder hatte oder nicht. Wir haben die Kinderfreibeträge deutlich angehoben.
Trotzdem sind Kinder und Beruf für viele nicht vereinbar, weil sie nicht wissen, wohin mit den Kleinen.
Auf diesem Feld gibt es heute schon positive Ausnahmen. In den traditionell links regierten Regionen – Emilia-Romagna, Toskana, Umbrien – existieren geradezu modellhafte Einrichtungen, die neben dem normalen Kindergartenbetrieb am Vormittag auch die Betreuung am Nachmittag gewährleisten. Unser Ziel muss es sein, in den nächsten Jahren diese Einrichtungen aufs ganze Land auszudehnen.
Fotohinweis:Die italienische Ministerin für Gleichstellungsfragen, KATIA BELLILLO (geb. 1950), ist Mutter zweier Kindern, Pädagogin und Mitglied der Partito di Comunisti Italiani FOTO: AP
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