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Wiesen, Wälder, Wildschweine

Der japanische Zeichentrickfilm „Prinzessin Mononoke“ erzählt von der wilden Kindheit, die in die zivilisierte Welt der Erwachsenen übergeht. Die Natur ist hier jedoch nicht der dämonisierte oder idealisierte Gegenentwurf zum Menschendasein. Ökologische Konflikte werden hübsch friedfertig beigelegt

von KOLJA MENSING

Einer der ersten Animes, die außerhalb Japans Erfolg hatten, war die Zeichentrickserie „Albs no Shojo Heidi“. Europäische Fernsehstationen hatten die Produktion, die in Deutschland unter dem schlichten Titel „Heidi“ ins Nachmittagsprogramm kam, Mitte der 70er-Jahre in Japan eingekauft. Regisseur war Hayao Miyazaki, seinen Namen hatte sich hier allerdings niemand so richtig gemerkt.

In den kommenden zwei Jahrzehnten entwickelte sich Miyazaki zu einem der bekanntesten Zeichner seines Landes, und sein abendfüllender Kinofilm „Prinzessin Mononoke“ ist der erfolgreichste Film in Japan überhaupt. Schön, dass all die Menschen, denen Miyazaki mit „Heidi“ damals Nachmittage voll großer Gefühle beschert hat, nun alt genug sind, um eine Abendvorstellung im Kino zu besuchen: „Prinzessin Mononoke“ läuft jetzt auch in Deutschland an – als Zeichentrickfilm „für Erwachsene“, worauf der Verleih ausdrücklich hinweist.

So rutscht man im Kinosessel gleich tiefer, wenn sich zu Beginn des Film der Himmel verfinstert, die Bäume erzittern und unter gewaltigem Dröhnen und Stampfen ein von allerlei finsterem Gewürm umrankter Rieseneber aus dem Wald hervorbricht: ein Dämon, der von einer Gewehrkugel getroffen wurde und seitdem eine Siedlung nach der anderen dem Erdboden gleichmacht. Der junge Krieger Ashitaka erlegt das Wildschwein mit einem Bogenschuss, geht allerdings aus dem Kampf mit einer tödlichen Verletzung hervor, die ihn zum Aussätzigen macht. Ashitaka schneidet sich den kindlichen Zopf ab und verlässt sein Dorf, um sich auf die Suche nach dem großen Waldgott zu machen, der ihn als Einziger von seinem Stigma befreien kann: So beginnt „Prinzessin Mononoke“ nach dem Muster der klassischen Bildungsromane, das man aus Disneys Zeichentrickfilmen gut kennt. Von „Bambi“ bis zum „König der Löwen“ wurde immer wieder die Geschichte vom Kind erzählt, das wohl oder übel erwachsen werden muss.

Auch im „Dschungelbuch“ ging es um den Übergang von der unzivilisierten Kindheit in die kultivierte Welt der Erwachsenen. Passenderweise zitiert „Prinzessin Mononoke“ dann auch die bekannte Szene aus diesem Klassiker, in der Mowgli am Rand des Waldes steht, zwischen den Bäumen hindurch auf das Dorf sieht und sich in das Mädchen mit dem Wasserkrug verliebt. In der japanischen Variante geht der Blick genau in die andere Richtung. Ashitaki sieht in den Wald hinein, wo ein düftig bekleidetes Mädchen mit blutverschmiertem Mund neben zwei riesigen Wölfen steht: Es ist die sagenumwobene Prinzessin Mononoke, ein Menschenkind, das wie Mowgli unter Tieren aufgewachsen ist.

Der Bach, der Ashitaki und das Wolfsmädchen trennt, ist allerdings von beiden Seiten verhältnismäßig leicht zu überwinden, und die Grenze zwischen Wald und Menschensiedlung in dem japanischen Film ist nicht so trennscharf wie die Demarkationslinie im „Dschungelbuch“. In der japanischen Kultur sieht man eben in der Natur keinen idealisierten oder dämonisierten Gegenentwurf zum zivilisierten Dasein des Menschen. Man steht ihren unberechenbaren Launen eher gelassen gegenüber und erfreut sich höchstens an ihrer äußerst spannungsgeladenen und bewegten Darstellung in der Landschaftsmalerei.

In dieser ästhetischen Tradition stehen auch moderne Mangas und Animes. In „Prinzessin Mononoke“ rauschen darum Wiesen und Wälder in großzügigen Wellenbewegungen über die Leinwand, Wildschweinherden überfluten ganze Täler, und selbst in stillen Momenten toben noch kleine Waldgeister durchs Unterholz. Die Natur ist ein Film im Film – ein Actionfilm.

„Prinzessin Mononoke“ ist aufwendig gestaltet und ausufernd erzählt. Ashitaki gerät in die komplizierte Auseinandersetzung zwischen dem Waldgott, Mononoke und einem Dorf, dessen Bewohner Bäume fällen, um Erz abbauen zu können. Der moralische Diskurs des Films erscheint dabei auf den ersten Blick nicht besonders eindeutig. Die Frontlinien verlaufen angenehm unübersichtlich, und zunächst weiß man als Zuschauer gar nicht, auf wessen Seite man sich eigentlich schlagen soll. Erst ganz zum Schluss finden dank Ashitakis Vermittlung alle Figuren ihren festen Platz in und außerhalb des Waldes wieder. Auch die Dorfgemeinschaft verzichtet auf weiteren Raubbau und einigt sich mit den Dämonen auf eine friedliche Koexistenz: Das Böse ist kein menschlicher Wesenszug, sondern nur ein Moment der mangelnden Einsicht in die harmonische Ordnung der Welt.

Was dem europäischen Beobachter wie die friedliche Beilegung eines ökologischen Konfliktes vorkommt, ist ein über den Naturbegriff transportiertes Bekenntnis zu traditionellen japanischen Werten: „Prinzessin Mononoke“ zeigt, dass die Wunschmaschinen Manga und Anime neben erotischen oder gewalttätigen Fantasien auch breiter angelegte und zumindest aus japanischer Sicht reichlich konservative Wertmuster verarbeiten können. Dass diese Wertmuster weit von dem entfernt sind, was in amerikanischen Zeichentrickfilmen verhandelt wird, macht eine Produktion wie „Prinzessin Mononoke“ über die beeindruckenden Bilder hinaus für den Zuschauer in Europa erst richtig interessant – und schön.

Manche Dinge sehen plötzlich so leicht aus, sogar das Erwachsenwerden. So kehrt Ashitaki am Schluss zu den Menschen zurück und verabschiedet sich von Mononoke: „Dann sind wir jetzt eben Nachbarn“, sagt der junge Krieger zum Wolfskind, das im Wald bleibt. Mowgli war nicht so einfach davongekommen.

„Prinzessin Mononoke“, Japan 1997. Regie: Hayao Miyazaki. 133 Min.

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