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Hinteransichten vom Paradies

In seinem großartigen Familienpanorama „Yi Yi“ folgt der taiwanische Regisseur Edward Yang einer Handvoll Menschen durch das heutige Taipeh. Es geht um alte und neue Lieben, einen achtjährigen Wahrnehmungsphilosophen, eine Großmutter im Koma – und um die Kunst der distanzierten Nähe

von HANNS ZISCHLER

Eine Familiengeschichte, nein, viele auseinander strebende und sich verknäuelnde Geschichten – mit einem tragischem Auftakt: die Großmutter verlässt vorzeitig und in Vorahnung eines Schwächeanfalls die Hochzeitsfeier ihres Sohns. Kurz darauf liegt sie zu Hause im Koma. Immer wieder treten die Angehörigen an ihr Bett und führen ein kleines Theater alltäglicher Scharaden auf – laut und sentimental, stumm und melancholisch, ganz wie im Leben, berichten sie, was ihnen widerfahren ist –, und die geistesabwesende Großmutter nimmt regungslos diese Bekenntnisse entgegen.

Wie in einem Kaleidoskop schüttelt Edward Yangs Film „Yi Yi“ die Ereignisse durcheinander, lässt sie zerfallen und setzt sie schließlich zu neuen Tableaus zusammen. So wie die Großmutter als das große (taube?) Ohr der Familie dem Film über den Geschichten lauscht, steht am anderen Ende ihr achtjähriger Enkel Yang-Yang, der wahre Held dieses Films.

Er ist ein neugierig naiver Beobachter und Wahrnehmungsphilosoph in einem. Er zerlegt die Welt mit seinen ernsten, aber nie altklugen Fragen – und setzt sie neu zusammen mit Hilfe ganz eigener Vorkehrungen. Einmal bedauert er im Gespräch mit seinem Vater, dass die Menschen die Welt nur mit ihrer vorderen Hälfte sehen können – und knipst daraufhin eine schöne Reihe von Hinterköpfen. Merkwürdigerweise entspringt daraus nicht ein komischer, sondern ein melancholischer Effekt, vermutlich deshalb, weil Edward Yang diesen Jungen und dessen Einsamkeit sehr ernst nimmt. Bewegend der Moment, wenn er mit undemütiger Schüchternheit die Verdächtigungen seines Lehrers über sich ergehen lässt, er habe ein Kondom ins Klassenzimmer mitgebracht, weiß der Junge doch gar nicht, was mit dem Wort, geschweige denn mit dem Gegenstand gemeint ist. Geradezu würdevoll und mit kindlich zeremonieller Einfühlung stellt dieser Achtjährige einer unnahbaren älteren Mitschülerin nach. Reiht man allein diese Momente aneinander, erhält man einen eigenen kleinen Entwicklungsroman.

Aus der Tiefe des Raumes

In die Welt der Erwachsenen transponiert, nimmt Edward Yangs einfühlende Haltung mitunter tragische oder groteske Züge an. So kommt es während einer recht lärmigen Hochzeitsfeier zu einer unverhofften Wiederbegegnung von Yang-Yangs Vater mit seiner früheren Geliebten: beide erstarren vor Schreck über das unverhoffte Wiedersehen. Er hat sie vor dreißig Jahren verlassen. In einem jähen Augenblick ruft sie mit lauter, theatralischer Stimme ihren Schmerz zurück, als sei die Zeit nie vergangen. Und vor allem will sie jetzt das erste und das letzte Wort haben.

Wir sehen in dieser Szene die Geliebte en face, Vater und Sohn hingegen nur von hinten, das heißt, wir stehen mit ihnen in einer Reihe. Und genau dieser Verzicht auf die vorgeblich „dramatisierende“ Grammatik von Schuss/Gegenschuss bewirkt, dass der Raum – hier die halböffentliche Lounge eines Hotels – die Pein der vernarbt geglaubten Wunde hervorbrechen lässt.

Annäherung vom Rande

Edward Yang ist ein Meister des diskreten Tempowechsels. Lächerlich ausgestellte Leidenschaften werden mühelos von kurzen rabiaten Ausbrüchen überformt, diese weichen ungewöhnlich ruhigen, schwermütig tangierten Szenen – und immer ist es die unaufdringliche Zuordnung zu ganz bestimmten, plastisch inszenierten Räumen (und den entsprechenden Kadragen), die den Affektwechsel so wirkungsvoll machen.

So wird die ältere Schwester Ting-Ting für den verstoßenen Liebhaber ihrer Freundin Botengänge erledigen; als sie dieser Instrumentalisierung überdrüssig wird, erfährt sie mehr zu ihrem Schreck als zu ihrer Freude, dass nunmehr sie die Angebetete sei – und von diesem Augenblick rückt Yang dem Pärchen näher und erzählt in wenigen, straff skizzierten Episoden deren weitere Geschichte: Sie endet mit einem Mord, den wir dann aber nur noch in seiner seiner unheimlichen medialen Überdosierung, als Nachricht auf dem Bildschirm und als banal-idiotische Videosimulation zu Gesicht bekommen.

Yangs narrativer Blick zielt auf tief und durchsichtig gestaffelte Räume außen wie innen. Innen ist es die verquer gemütliche, amerikanische Möblierung, ein qualitätsloser „westlicher“ Stil, der alle Wohnungen durchweht; diese west-östliche Melange kippt aus der schieren Architektur in groteske Sentimentalität, wenn in einer Bar ein japanischer Geschäftsfreund von NJ in einem instrumentellen Karaoke eine Beethoven-Klaviersonate imitiert. Außen sind es die Blicke aus den Hochhäusern auf die menschenfernen, tiefen Schneisen der Schnellstraßen von Taipeh, oder es sind die großen Haine von Tokio, wo die „Unverhofften“ sich nach dreißig Jahren zum ersten Mal ungestört treffen können. Ihre intimen Reminiszenzen wirken vor dem Panorama der riesigen Bäume wie ein weltentrücktes Geflüster, sodass man für einen Augenblick der Illusion nachgeben mag, selbst aus dieser verjährten Affäre könnte eine neue Romanze erwachsen.

Diese Liebesgeschichte wird mit leichter Hand eingeflochten in das, was man die „laufenden Ereignisse“ nennen könnte – der Geschäftsalltag des Vaters, der Schulalltag der beiden Kinder, die Pflege der moribunden Großmutter, die Sorge um die Ehefrau. Diese folgt eines Tages antriebslos dem Priester einer hybriden Glaubensgemeinschaft in einen Tempel und verschwindet für längere Zeit von der Bildfläche. Sie taucht, mit lauten Selbstbezichtigungen wie mit einem Kostüm angetan, wieder auf, als die Großmutter verschieden ist und beerdigt wird.

Während dieser in Distanz gefilmten Zeremonie gibt es am Ende den sehr bewegenden Abschied des kleinen Yang-Yang von seiner Oma. Sehr nah ist die Kamera – aus der Perspektive der toten Frau – bei dem Kind, während er ihr aus seinem Schulheft all das vorliest, was er ihr nie hat sagen können.

Im Jenseits des Kinos

Zwischen innen und außen sind in „Yi Yi“ die Fenster und Spiegel, riesige, transparente Flächen und Reflexionszonen der großen Projektionen, in denen die Figuren ihrer realen Haftung enthoben wirken, als wären sie aufgrund einer unerfindlichen Laune von irgendwoher in die Geschichte einfach hineingeblendet und zu furiosen, hysterischen oder bedächtigen Auftritten überredet worden.

In einer einzigen Szene schließlich löst Yang sich mühelos wie ein Vogel vom Realismus seiner Geschichten und lässt durch einen winzigen Spalt die jenseitige Welt – welche ja auch immer die des Kinos ist – hereinscheinen. Ting-Ting kauert an der Seite der Großmutter. Diese ist aus dem Koma erwacht und gänzlich wiederhergestellt. Sie gibt der Enkelin einen Papierschmetterling. Kurz darauf stirbt die alte Frau – und es hat den Anschein, als sei sie nie aus dem Koma erwacht; Ting-Ting aber hält den Papierschmetterling in der Hand.

Es ergeht uns hier – und im Rückblick im gesamten Film – wie mit dem Traum von Samuel Taylor Coleridge: wir wissen nicht, wo die die Schwelle war, über die aus dem Jenseits der Gegenstand hereingereicht wurde, ehe die Unsichtbarkeit sich wieder über dem kleinen Ereignis schloss. Coleridge hat, nach der Überlieferung von Borgés, geschrieben: „Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?“ Aus diesem Stoff ist der zauberhafte Film von Edward Yang gemacht.

„Yi Yi“. Regie: Edward Yang. Mit: Wu Nianzhen, Issey Ogata, Eliane Jin, Kelly Lee, Jonathan Chang u. a. Taiwan/Japan, 173 Min.

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