truth or dare: Live to tell: Eine Woche mit Madonna
Die Analyse
Berlin brodelt, analysierte am Dienstag Abend messerscharf die Sprecherin der Sat.1-Nachrichten; Berlin brodelt so sehr, dass es immer schwerer fällt, bei Madonna noch auf den Grund der Dinge zu schauen und die eine oder andere Erkenntnis zu gewinnen. Wir wollen es trotzdem versuchen.
Madonnas unbestrittene Verdienste in den Achtzigern und frühen Neunzigern: Sie zeigte den Frauen den „wahren Feminismus“ (Camille Paglia) und begründete den Postfeminismus; sie brach Tabus und sprach von Sex und Lust; sie zeigte, wie man weiblich und sexuell sein kann, ohne die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren; sie machte Bodybuilding salonfähig und schaffte sich ihr eigenes Imperium; sie spielte mit den Mechanismen des Medienbetriebs, ohne sich in ihnen zu verfangen; sie wechselte ihre Rollen und Frisuren so lang und so oft, bis sie sich dabei total verflüchtigte.
Als das geschah und sie Platten wie „Erotica“ oder „Bedtime Stories“ herausbrachte, schien es mit ihr zu Ende zu gehen, da lockten ihre Inszenierungen, Bücher und Platten keinen Menschen mehr aus Schlafzimmern und hinter Schreibtischen hervor. Madonnas Verdienste wurden schließlich so oft aufgeschrieben, dass diese irgendwann gänzlich hinter den Worten verschwanden.
Und jetzt? Ist sie mit einem Album und einer Tour zur „letzten Göttin“, zum absoluten Megastar, zum Liebling der Welt, zum größten lebenden Popstar geworden. Größer als Monroe, größer als Lady Di, größer als alle toten und lebenden Superstars zusammen. Madonna ist dermaßen über uns gekommen, dass selbst die hartnäckigsten Ignoranten nicht mehr umhinkamen, sich mit „Music“ zum allerersten Mal ein Album von ihr zu kaufen (in einschlägigen Medien getriggert durch die Tatsache, dass ein hipper französischer Produzent wie Mirwais sich ihrer angenommen hatte). Ja, sie schwebt dermaßen über uns, dass sich niemand zu sagen traut, dass er mit Madonna eigentlich nichts an der Waffel hat, geschweige denn, sie Scheiße findet. Wobei der ganze Budenzauber um sie natürlich schwer ins Gewicht fällt. Und sie ist dermaßen präsent, dass sich eigentlich kein Mensch mehr fragt, was der Mummenschanz auf ihren Konzerten eigentlich noch soll: Geisha-Style, Punkrock-Style, Cowgirl-Style, Cyber-Style, Spanisch-Style, Pelzmantel-Style?
Ein Mummenschanz, der nichts bedeutet und auch hinter dem nichts nur nichts produziert. Ist aber schön anzuschauen. Oder sind die Leute tatsächlich noch fasziniert von den unermüdlichen Inszenierungen, weil sich in ihnen die Sehnsucht nach radikaler Individualität, nach dem absoluten freien Willen, nach der totalen Kontrolle ausdrückt? Umso vielfältiger, umso freier? Umso individueller, umso unterdrückter? Bewegen sich Madonnas Inszenierungen noch wirklich zwischen diesen Polen?
Großartig wäre, wenn Madonna sich einfach mal an den Rand der Bühne setzen und ihre Lieder, wo sie doch jetzt Gitarre spielen kann, sozusagen unplugged aufführen würde. In solch einer Situation fiele der ganze inszenierte Glamour zwar weg, die Aura aber würde bleiben – falls es eine geben sollte.
Doch es geht ja jetzt bei Madonna auch um das Alter, die Familie und den Nachruhm. Zum Alter nur so viel: Tina Turner. Zur Familie: Auch andere Frauen entscheiden sich immer öfter erst für die Karriere und dann für Kinder. Madonna ist eine von ihnen, aber sicher nicht die Erste. Und wie leicht ist es doch, Kinder aufzuziehen mit unzähligen Nannys und ein paar Mark mehr im Geldbeutel: Da lässt es sich doch gleich auch besser arbeiten.
Interessanter die These des Spiegel, dass Madonnas Familienleben auch eine Art Rebellion sei – so was führten doch nur noch Minderheiten und Außenseiter (Zynismus galore!). Am interessantesten aber die Überzeugung vieler, Madonna wäre jetzt das allerletzte Mal unterwegs. Wahrscheinlich ist das die Lösung – Madonna könnte dann tatsächlich die supergeheimnisvolle Diva, der überlebensgroße Mythos werden. Berlin und die Welt würden dann nicht mehr brodeln.
Aber, wie hat es doch die BZ unfreiwillig schlau geschrieben: „Berlin liebt dich auch als Phantom“. GERRIT BARTELS
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