: „Die Schönheit liegt im Drumherum“
Ein Leben für die Arbeit am Raum: Das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude über die Ursprünge ihrer „Verhüllungskunst“, über das allmähliche Werden ihrer Projekte – und warum sie sich gerne mit Leuten auseinander setzen, denen Kunst fremd ist
Interview SILKE HENNIG
taz: Jeanne-Claude und Christo, Sie zeigen dieser Tage in Berlin Ihre bisher umfangsreichste Ausstellung früherer Werke, von 1958 bis 1969. Wie ist es, wenn Sie Arbeiten gegenüberstehen, die vor so langer Zeit entstanden sind?
Jeanne-Claude: Jede Arbeit fördert Erinnerungen zu Tage. Es kann vorkommen, dass ich mich bei einer Arbeit von 1961 plötzlich erinnere: Oh ja, das hast du gemacht an dem Tag, als unser Sohn seinen ersten Zahn bekam! Ich weiß nicht, wie es Christo damit geht, aber ich persönlich habe nichts gegen das Wort „sentimental“. Tatsächlich bringt diese Ausstellung viele Sentimente, Empfindungen, hervor.
Christo: Die Räumlichkeiten sind gut geeignet, um große Innenraum-Installationen aufzubauen wie die „Store-Fronts“, die zwischen 1963 und 1967 entstanden sind. Das geht natürlich nur, weil wir hier, im Martin-Gropius-Bau, entsprechende Räume haben: Im oberen Stockwerk zeigen wir Arbeiten und Installationen, die sich auf den Innenraum beziehen. Im Erdgeschoss sind die Projekte für den Außenraum, Stadt- und Landschaftsprojekte ausgestellt. Danach folgt dann die Geschichte des Reichstagsprojekts von 1971 bis 1995.
Warum haben Sie gerade diesen Zeitraum gewählt?
Christo: Ich bin 1957 in den Westen geflüchtet und kam im März 58 nach Paris. Das erste kleine, verhüllte Objekt entstand also 1958. Es war dann einfach eine Entscheidung, 1969 einen Schnitt zu machen . . .
Jeanne-Claude: Sonst hätten wir fünf oder sechs „Gropius-Bauten“ gebraucht!
Christo: Die „Reichstag“-Ausstellung, die Darstellung der Geschichte dieses Projekts, ist wiederum ein Kunstwerk für sich. Es ist eine sehr gründliche Dokumentation der gesamten Arbeit, nicht nur durch Originale – Zeichnungen, Skizzen und Modelle –, sondern durch hunderte von Dokumenten, echten Gerätschaften für das Projekt, Haken, Kabel. Das alles zusammen ist eins. Deshalb ist die Ausstellung zum Reichstag nur insgesamt zu verkaufen.
Sie sagten vorhin, dass Ihre frühesten Stücke in der Ausstellung kleine, verpackte Objekte sind . . .
Jeanne-Claude: Nein, das haben Sie missverstanden. Einige der Arbeiten waren für Innenräume geplant, andere für den Außenraum. Da ist zum Beispiel ein Vorhaben von 1961, in dem es um die Verhüllung eines öffentlichen Gebäudes geht. Auf der Zeichnung steht, es sollte sich um ein Parlament oder ein Gefängnis handeln. Das war 1961!
Christo: Natürlich, einige der visionären Vorhaben für große Außenraumarbeiten entstanden schon 1961. Zur selben Zeit, als ich auch kleine, bescheidene Flaschen und Dosen „verpackte“.
Wenn man nun den „Verhüllten Reichstag“ mit einem verhüllten Objekt vergleicht . . .
Jeanne Claude: Der Reichstag ist kein Objekt, und er steht im Außenraum.
Darauf will ich hinaus . . .
Christo: Es geht um das Größenverhältnis. Dinge, die man mitnehmen kann, anfassen – die kleinen Objekte waren wie aus einem Haushaltsinventar: Tisch, Stuhl und eine Reihe von Dingen – jederzeit mitzunehmen.
Aber ist das denn der wesentliche Unterschied zwischen kleinen Objekten und den großen Projekten: die Größe?
Christo: Es ist nicht die Größe, nein, nein. Es geht um den Raum: den menschlichen Maßstab, die Größe einer Person, wie wir uns im Raum bewegen – im Verhältnis zu dessen Höhe, zur Tür und was sich dahinter befindet. Das ist es, was wir zum Beispiel in den „Store-Fronts“ sehen. Eine solche Installation ist buchstäblich wie eine Straße: Man geht vorbei an einer Wand aus blinden Schaufenstern.
Jeanne-Claude: Im Raum!
Christo: Umgekehrte Architektur, die von draußen in einen Innenraum gekommen ist. Dabei geht es nicht einfach um Größe, sondern um das Verhältnis zum Raum.
Ich habe ein Interview mit Ihnen gelesen . . .
Christo: Mein Englisch ist sehr schlecht.
. . . jedenfalls haben Sie in diesem Interview gesagt, jeder Künstler drücke in seiner Kunst auch seine Herkunft aus . . .
Christo: Ja, natürlich, das ist unvermeidlich.
Nun wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Sie in Ihrer Heimat Bulgarien, als ganz junger Künstler, quasi künstliche oder falsche Landschaften geschaffen hätten, um die Gegend entlang der Gleise des Orient-Express besser aussehen zu lassen . . .
Christo: Das ist vollkommen falsch. Kunsthistorikern gefällt es, so etwas zu erfinden. Ich will das erklären: Bis ich einundzwanzig war, lebte ich in Bulgarien. Ich wuchs während des Kalten Krieges auf. Bulgarien war sehr prosowjetisch und brach 1948 alle diplomatischen Beziehungen zum Westen ab, der als imperialistisch und dekadent galt. Natürlich mischte sich die kommunistische Partei auch in Sachen politischer Erziehung in die Kunsthochschule ein. Wir Studenten waren verpflichtet, viel Zeit für „Agit-Propaganda“ herzugeben. Jedes Wochenende mussten wir mithelfen, die Botschaften der Partei für das Volk zu übersetzen. Obwohl Bulgarien alle diplomatischen Beziehungen zum Westen abgebrochen hatte, gab es noch einen Berührungspunkt: den Orient-Express, der über 350 Kilometer Länge durch das Land fuhr.
Jeanne-Claude: Ohne anzuhalten.
Christo: Die kommunistische Regierung war sehr erpicht darauf, dass das Land entlang der Gleise die Dynamik und Energie der kooperativen bulgarischen Landwirtschaft vermittelte, und so verbrachten die Kunststudenten ihre Wochenenden damit, die Bauern zu beraten, wie sie ihre Traktoren entlang der Eisenbahnlinie parken sollten, damit der Eindruck einer mechanisierten Landwirtschaft entstand. Natürlich hassten wir das. Es waren schrecklich triste Herbsttage! Und wir mussten unsere Wochenenden auf Bauernhöfen zubringen mit Leuten, denen egal war, was wir machten.
Aber etwas Wichtiges geschah: Wahrscheinlich habe ich dort Geschmack daran gefunden, mit Leuten zu sprechen, die sich nicht für Kunst interessieren – etwas, das wir heute, bei der Arbeit an unseren Projekten, andauernd tun. Und natürlich lernte ich dabei auch, was 100 oder 200 Meter sind, wenn ich sagte, „stell den Traktor dorthin und 50 Meter weiter dann den Mähdrescher und nicht dort auf den Hügel“. Ich habe dabei viel über „Raum“ gelernt. Ich lebe, um mit „Raum“ zu arbeiten.
Was interessiert Sie daran, mit Leuten zu sprechen, denen Kunst nichts bedeutet?
Christo: Im Grunde nimmt der Künstler traditionellerweise ein Objekt und schafft einen Parcours. Er bestimmt, wie man sich in dem Raum bewegen, wo man sitzen soll: So ist das traditionelle bildhauerische Verhältnis zum Raum.
Es gibt aber noch einen anderen Raum, über den wir sehr wenig nachdenken: In dem Moment, in dem wir auf die Straße gehen – jemand hat die Straße gestaltet. Man geht auf dem Bürgersteig, den hat auch jemand gestaltet: Stadtplaner, Politiker. Wir, Jeanne-Claude und ich, borgen uns solche Orte und schaffen für wenige Tage sanfte Störungen. Im Grunde „erben“ wir alles, was einem solchen Ort eigen ist, und es wird Teil des Kunstwerks. Wir haben nicht die Politik zum Reichstag dazuerfunden, die war schon vorher dort.
Im Verlauf dieses Prozesses, von der anfänglichen Idee zur Durchführung eines Projekts, gibt es da Veränderungen? Führen die vielen Gespräche mit Leuten zu Änderungen an der ursprünglichen Idee?
Christo: Das Projekt wird uns enthüllt. Es ist wie eine Offenbarung. Man sieht das in der Ausstellung: Die ersten Skizzen zum „Reichstag“ waren sehr unbeholfen, vereinfacht. Wir wussten kaum, was Berlin, was der Reichstag ist. Wir kratzten an der Oberfläche. Erst durch die Anstrengungen, die Erlaubnis dafür zu bekommen, hat sich uns diese Arbeit wirklich enthüllt.
Deswegen nehmen wir auch keine Aufträge an: Wir wollen dieses Feedback haben. Jedes Projekt ist wie eine Universität für uns, wie eine Expedition, und indem wir sie selbst initiieren, sind wir auch mit Ablehnung, mit Scheitern konfrontiert. In vierzig Jahren haben wir 18 Vorhaben umgesetzt, 22 Projekte sind gescheitert.
Sie sagen, was Ihre Arbeiten den Menschen geben, sei Schönheit . . .
Jeanne-Claude: Was für uns schön ist, entspricht nicht unbedingt den Kriterien anderer. Viele Männer sind mit hässlichen Frauen verheiratet, aber sie lieben sie und finden sie schön. Wir sagen nie nur „Schönheit“. Wir sagen „Freude und Schönheit“.
Christo: Es ist nicht die Farbe oder die Proportion. Es geht darüber hinaus. Die Schönheit liegt im Drumherum: in der Luft, in vielen Dingen.
Stehen Sie Ihrer Arbeit kritisch gegenüber?
Christo: Immerzu. Das ist einer der Vorteile, wenn man zu zweit ist. Wir kritisieren uns ständig gegenseitig. Und dann sind da die öffentlichen Diskussionen unserer Projekte. Tausend Leute denken, unsere Arbeit wird schrecklich aussehen, tausend andere glauben, sie wird schön sein. Und jedes Mal, wenn es um eine Erlaubnis geht, reden wir nicht nur. Wir müssen Bildmaterial mitbringen, Modelle. Wir müssen insistieren und übersetzen und Verständnis schaffen.
Jeanne-Claude: Aber das ist schwierig, weil es nie Präzedenzfälle gibt. Wir werden nie wieder eine Brücke verhüllen – das heißt, wir stoßen immer wieder auf neue Leute an neuen Orten mit einem neuen Vorhaben, das wir dann erklären müssen. Es gibt neun Filme über unsere Arbeiten, die auch im Gropius-Bau zu sehen sein werden, und in vielen hört man mich etwa sagen: „Die Seile sind zu kurz.“ Und Christo sagt: „Nein, die Seile sind zu lang!“ Das ist sehr hilfreich, denn ich denke dann, „vielleicht hat er Recht“, er denkt, „vielleicht hat sie Recht“. Und dadurch finden wir zur richtigen Länge. Das nennen wir Diskussion.
Sie scheinen in Bezug auf Ihre Arbeit immer sehr präzise zu sein – auch in der nachträglichen Dokumentation Ihrer Projekte.
Jeanne-Claude: Das ist nur, weil so viel Falsches publiziert wird. Also müssen wir, solange wir noch leben, für korrekte Fakten sorgen! Wir haben eine Sammlung von Kunstgeschichtsbüchern, Zeitschriften und Fernsehsendungen zu Hause. Wenn man denen glaubt, dann kam Christo in sieben verschiedenen Ländern zur Welt!
Könnte Ihr Bemühen nicht auch daher rühren, dass Sie „Control Freaks“ sind?
Christo: Nein, nein.
Jeanne-Claude: Ja. Wir sind Control Freaks. Absolut. Wir glauben an die Freiheit der Presse, aber noch mehr an unsere Freiheit. Und wenn wir einen Fehler oder eine Dummheit entdecken, möchten wir das korrigieren.
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