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Der erste Tod ist der Tod des Anderen

Der Tod ist die Klippe, vor dem jedes Denken bestehen muss, und das Leben immer ein Überleben: Michael Mayers Buch „Totenwache“ verschränkt autobiografische mit philosophischer Reflexion und ist eine literarische Erörterung mit politischer Relevanz. Denn abschaffen lässt sich der Tod nicht

Dass Mayer sein Werk der Erfahrung von Trauer abgerungen hat, spürt man „Totenwache“ beeindruckt durch einen assoziativ-treibenden Wortstrom

von THOMAS LACHENMAIER

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Die Philosophen irrten noch jagend und sammelnd durch die Ebenen – oder doch hütend und treibend durch Täler und Auen –, da hatte der Gott der Juden und Christen schon den definitiven Eckstein ausgemacht, die Klippe, vor dem jedes Denken bestehen muss: den Tod. Was, wenn nicht das Unerbittliche dieser Endlichkeit, zwingt zur Reflexion? Vor der Uhr, die abläuft, haben die Philosophen aller Zeiten den beinernen und unerbittlichen Gevatter als Demarkationslinie akzeptiert.

In den Psalmen, wie in den Vorstellungen der Philosophen seither, scheint der Tod im Besitz des einzelnen Menschen zu sein – es ist dein Tod, also kümmere dich, lebe ein gutes Leben, aber auf jeden Fall: Mach dir Gedanken, bevor dein Tod dich einholt, holt. Mit Sokrates weist das Paradigma der Philosophen der vergangenen zwei Jahrtausende jedem seinen Tod zu, einen „jemeinigen Tod“, der mit Sokrates „wesensmäßig je der meine ist“.

Dieser abendländischen Traditionslinie hat der Philosoph Michael Mayer mit seiner „Totenwache“ ein sehr ungewöhnliches Buch gewidmet, besser gesagt: entgegengestemmt. Es verschränkt autobiografische mit philosophischer Reflexion, es ist eine spannende literarische Erörterung mit einer auch politischen Relevanz.

Selbstbewusst nimmt Mayer die Gegenposition zur philosophischen Tradition ein und wittert gleich eine „ungute christlich-griechische Allianz zur Konsolidierung des jemeinigen Todes“. Das Fokussieren der Philosophie auf die Priorität des eigenen, „jemeinigen“ Todes vor dem Tod des Anderen lehnt Mayer als eine „Verengung des Fragesinns“, als „ego-thanatologische Verblendung“ ab.

Er sagt mit Emmanuel Lévinas: „Der Tod des Anderen ist der erste Tod.“ Mayer überschreitet die Ichbezogenheit des „eigenen“ Todes und nimmt in der philosophischen Praxis „so etwas wie ein Vorurteil, ein weitreichendes, mächtiges und uraltes Vorurteil, vielleicht 2.000-jähriges Vorurteil“ wahr. Dass der andere Tod als „sekundär“, als „abgeleitet“ gelten soll, akzeptiert Mayer nicht und sieht noch Heideggers „Vorlaufen zum Tode“ als im Banne einer „Thanato-Ego-Logik“ stehen. Die sucht er zu überwinden und richtet den Spot auf die zweite, die dritte, die vierte Person. Mayer steht der Antwortsinn an dieser letzten Demarkation nach dem Anderen, der den Tod vorstirbt. Diese Erkenntnis ist für Michael Mayer mit einem Schock, einer biografischen Zäsur verknüpft. Für Michael Mayer geht der Tod eines Freundes, ein Unfalltod auf einer idyllischen Schwarzwaldstraße („ausgerechnet“) bei Freudenstadt dem eigenen Tod voraus. Für ihn verdichtet diese traumatische Erfahrung den Tod des Anderen zum ersten Tod. Es macht den eigenen Tod, den es nur als Erwartung geben kann, zu einem „zweifach gefalteten Tod“.

Im siebten Kapitel von Sigmund Freuds Traumdeutung findet Michael Mayer eine bedrückende Sequenz, mit der er sein Denken veranschaulicht. Ein Vater wacht im Kerzenlicht am Totenbett seines Kindes. Erschöpft geht er in das Nebenzimmer, um zu schlafen, nicht ohne zuvor einen alten Mann um die Totenwache zu bitten. Im Schlaf ereilt ihn ein schrecklicher Traum: Sein Kind stehe an seinem Bett, versuche ihn zu wecken mit den Worten: „Vater, siehst du denn nicht, dass ich verbrenne?“ Der Vater „erwacht, bemerkt einen hellen Lichtschein …, findet den greisen Wächter eingeschlummert, die Hüllen und einen Arm der Leiche verbrannt durch eine Kerze, die brennend auf sie gefallen war“.

Wird mit dem Tod des Kindes nicht erst der Tod geboren?, fragt Mayer. Ist das „Für-sich-Sterben“ womöglich eine Abstraktion? In der Tat: Wer könnte den eigenen Tod erleben? Allenfalls das Sterben, das zum Tode hinführt. Aber hier ist nicht der Weg das Ziel. Epicharmos aus Krastos hatte gut spotten: „Sterben, ja, das bleibe fern. Doch Totsein, das macht mir nichts aus.“ Der Tod des Anderen ist der erste Tod, das Leben ein „Überleben“.

Dass die „Totenwache“ von Michael Mayer über den kleinen Kreis der im engeren Sinne philosophisch Debattierenden hinaus von Interesse ist, verdankt das Buch der oszillierenden Durchmischung der persönlich-biografischen Perspektive und der philosophischen Fragestellung. Hier entsteht der Sog, der den Leser durch die Seiten zieht. Und das ist bei einem solch anspruchsvollen Gegenstand der Erörterung schon eine Leistung. Zumal sich Mayer einer nicht immer leicht zugänglichen Sprache bedient. Mitunter sind ihm komplizierte Formulierungen eine Lust, insistierende, repetierende Kreisungen. Dann findet er aber auch zu kraftvollen, zupackenden Worten.

Die „Totenwache“ beeindruckt durch einen ganz eigenen Stil, einen eigenwilligen assoziativ-treibenden Wort- und Satzstrom, der sich immer wieder an Fragmenten und Splittern bricht. Diesem Mahlstrom, der sich hier in parallelen Strömungen verzweigt und da in präzisen Linien konzentriert, will man sich nicht entziehen. Dass Mayer dieses Werk der Erfahrung von Trauer gleichsam abgerungen hat, spürt man. Es verleiht dem Werk enorme Dichte.

Nicht nur deshalb ist Michael Mayers Buch „Totenwache“ fern jeder Beliebigkeit. Politische Relevanz bekommt es durch die Linien, die Mayer vom Begriff des Todes zu den so genannten Biowissenschaften und ihren Machbarkeitshalluzinationen zieht, der neuen Religion. Wenn deren Vorbeter „das Ende der Evolution“ ausrufen und vom „Management der Biosphäre“ schwärmen, dann kann man einem Buch wie diesem nur viele Leser wünschen.

Michael Mayer: „Totenwache“. Passagenverlag, Wien 2001, 179 Seiten, 22 €

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