: Das Karnevalswunder
Das Funkenmariechen bibbert, der Kräuterbitter schmeckt, die Bullen tragen Helm, die BSE-Kuh tanzt. Dabei kann man doch auch unverkleidet lustig sein. Ein geglückter Therapieversuch aus Köln
von ULI HANNEMANN
Wir näherten uns der Rheinmetropole auf dem Schienenwege – aus Richtung Westfalen kommend, einer Gegend, in der es so viele Schweine wie Menschen gibt. Der Zug war voll mit diesen bodenständigen Muffelwesen, die sich nur widerwillig verkleiden, aber die der willkommene Anlass zum Trinken anzog.
Auf dem Gang teilte ich mir eine 1-Liter-Plastikflasche selbst gemixten Harvey Wallbangers mit meinem Funkenmariechen. Das hatte ich mitgenommen, weil ich die anstehende große Aufgabe niemals völlig alleine bewältigen konnte: Ich war nämlich mit dem festen Vorsatz gekommen, den Karneval ein für alle Mal zu beenden. Während wir uns betranken, fragten wir uns gegenseitig aus einem Deutsch-rheinländischen Wörterbuch ab. Die wohl wichtigste Phrase war „De Zoch kütt“ („Der Zug kommt“).
Dieser Satz bedeutete zugleich den Befehl zum Jubeln und den Rat, beiseite zu springen, um nicht von vermummten Vandalen überrannt zu werden. Besonders schwierig war die Aussprache, denn man musste versuchen, ein entsetzliches Gegurgel (das sog. „Jejorgl“) zu imitieren, das an Hilfeschreie ertrinkender Molche erinnert. Das Funkenmariechen gurgelte, die Bremsen quietschten – wir waren da!
Die Türen der Waggons öffneten sich, der Lautsprecher auf dem Bahnsteig quäkte „De Zoch kütt“, die Schweine strömten auf die Gleise und wir anderen in die Vorhalle. Dort standen schon die Jecken – so nennt man hier die Psychopathen – und schrien: „Heeyy Baby … uuhh … aaahh …“, „Verdamp lang her …“ Fast alle hatten sich als BSE-Kühe verkleidet. Ein bisschen Bammel hatte ich ja vor dem ersten Checkpoint, der Verkleidungskontrolle. Das Funkenmariechen hatte sich wegen der Kälte als Michelin-Männchen verkleidet und ich mich gar nicht. Null. Ich kann auch ohne Verkleidung lustig sein.
Als was ich denn käme, fragte der Kontrolleur schneidend. Ich sagte, ich käme als Jakob-Kaiser-Platz, und weil er das nicht nachprüfen konnte, bekam ich meinen Stempel. Die Alkoholkontrolle war leichter, wir hatten bereits ausreichend getrunken. Jetzt durften wir die Stadt betreten. Ich blickte den Dom hoch und da ich ein wenig besoffen war, bekam ich einen spirituellen Flash: Die Größe des Gebäudes transformierte in eine Größe des Augenblicks und machte mich taumeln: Ganz ähnlich wie bei unter Drogeneinfluss entstandener Musik, die man vorzugsweise unter Drogen stehend zu begreifen in der Lage ist, die dann am besten „zeckt“, wie der Musikwissenschaftler sagt, verstand ich nun die ganze Welt, verstand den Kölner Dom – die großartigste Architektur, die je im Rausch geschaffen wurde!
Den Karneval verachtete ich dagegen nach wie vor. Wir folgten den Jecken. Wir gingen an den Statuen von Nippes, Tinnef und Scheel vorbei, den Gründervätern und Stadtheiligen, an mit Spanplatten vernagelten Schaufenstern und behelmten Bullen. Kurzzeitig fühlte ich mich wie zu Hause und einst im Mai. An den Ecken standen Fässer mit Teer und solche mit Federn, um Leute, die es trotz aller Kontrollen geschafft hatten, ohne Stempel durchzubrechen, zwangszuverkleiden.
„Alle Zochpläne“, verkündete der Kölner Express am Straßenrand den baldigen Beginn des Sommerfahrplans. Dann hatten wir die Stelle erreicht, wo bald der „Jeisterzoch“ durchkommen sollte. Wir reihten uns in das Spalier der Wartenden ein. Das Funkenmariechen bibberte und wir nahmen ein paar Fläschchen Kräuterbitter. „Kölle aanaal“, krakeelten die Jecken und „heeyy baby … uuhh … aahh …“, sprangen und soffen und warteten, bis plötzlich „De Zoch kütt“ erscholl und alle noch viel jecker wurden.
Damit war der große Moment für mich gekommen: Ich drängelte durch die Massen, wobei ich das Funkenmariechen hinter mir herzog, und gelangte vor die Spitze des Zugs. Dort stoppte ich den Marsch mit einer herrischen Handbewegung. Als mich die Kasperkühe erblickten, fingen sie sofort entsetzlich zu schreien an, weil ich das grässlichste aller Kostüme trug, das Kostüm des Miesepeters: Anorak, Jeans, Turnschuhe. „De miese Pütt, de miese Pütt“, kreischten angstvoll die Jecken, aber es war zu spät – ich hub zu sprechen an: „Das macht doch keinen Sinn, Leute. Geht weiter, auseinander, hier gibt es nichts zu sehen.“
Das wirkte – sofort begann der Zug sich aufzulösen. Viele zogen ihre Kuh-Kostüme aus und schlichen von dannen. Sie sollten sich einsichtig zeigen, bat ich mit sanfter Stimme, und wieder ins „Jeckenheim“, wie man hier die Nervenkliniken nannte, zurückgehen. Den meisten von ihnen könne man sicher helfen. Sie sollten sich mal ein Beispiel am Funkenmariechen und an mir nehmen. Stolz rülpste das Funkenmariechen. Und es gebe doch so viele schöne Dinge im Leben, wenn sie sich nur mal den Dom ansähen. Warum sie denn nur so laut und oberflächlich gewesen wären?
Fast alle weinten nun und gelobten Besserung. Wir ließen sie ziehen. Ich wusste, dass sie das nie wieder machen würden.
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