: Kompakte Performance
■ Dorothea Ratzel machte in ihrer Choreographie „Das Kind“ beim „feuer + flamme“-Festival das Alleinsein zum Thema
Sie müssen marode Beziehungen retten, sollen später aber bloß nicht stören. Sie sind herzallerliebst – wenn sie keine Ansprüche stellen. Kinder sollen viel spielen. Am besten alleine – und draußen. Die Hamburger Choreographin Dorothea Ratzel hat im Rahmen des „feuer + flamme“-Festivals auf Kampnagel den Text Das Kind des Berliner Autors Lothar Trolle in eine kompakte Performance umgesetzt. Eine knappe Stunde lang lotete Ratzel aus, wie sich Langeweile für ein Kind anfühlt.
Während die Zuschauer ihre Plätze einnahmen, hing sie schon von Ödnis gelähmt unter der De-cke. Zwar gehalten von perfekter Kletterausrüstung, aber eben doch „in den Seilen“. Hier ein ermattetes Umsetzen, dort ein müdes Wippen mit dem Zeigefinger im Takt der stetig anschwellenden Musik – von Anfang an stimmten die Bilder von Ratzels Solo.
Nach einigem Zögern – „ich warte noch immer, dass mir Flügel wachsen“ – landete die Tänzerin schließlich auf dem Boden. Waren die Möglichkeiten in der Luft, also der Wohnung, klar begrenzt, muss sich das Kind jetzt im Hof zurechtfinden. Bis auf das Kletterzubehör ohne Requisiten agiert die 35-Jährige auf der riesigen, kahlen Bühne. Immer ein wenig dunkel und unheimlich ist die Beleuchtung und trifft somit deutlich die Empfindungen des auf sich gestellten Kindes. Mangels besserer Ideen wendet es sich erst mal dem abgegriffenen Reim von „Ich und du, Müllers Kuh“ zu. Immer hastiger und aggressiver hämmert es verbal und gestisch auf einen imaginären Spielkameraden ein. Die Worte verselbständigen sich und verlieren ihre Bedeutung. Doch wie dies lediglich Übungen aus dem Schauspielunterricht sind, lernt auch das Kind erst spielen.
Beim Tanz besticht Ratzel am stärksten: Das Kind verausgabt sich, lernt sich und seinen Körper kennen. Überall fühlt es seinen Puls und damit, wo das Leben schlägt. Die Tänzerin vermittelt ergreifend den Bewegungsdrang dieses vereinsamten und vernachlässigten Kindes, das kaum weiß, wohin mit seiner Energie.
Dass eine verträgliche Kanalisierung fehlt, zeigen schließlich die morbiden Phantasien. Das Kind steht nun am Fenster und berichtet vom nächtlichen Geschehen im Wohnsilo: Herrn Müller verspeisen die Löwen, einen anderen erwischt die Anaconda Petra auf dem Parkplatz. Reichlich skurril geht es hier zu, mit Gurgel- und Knackgeräuschen äußerst bildhaft erzählt. Der Beschwerdetonfall – als seien die Opfer gar selbst schuld – ist dem elterlichen nicht unähnlich, so möchte man meinen. Am Ende schlüpfte Ratzel aus dem Kind heraus und beendete die einfallsreiche Inszenierung leider mit einem zu pathetischen Bruch. Liv Heidbüchel
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