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Unter der Decke gelassen

Höllenmaschine ohne Spannung: An der Berliner Volksbühne zerlief Einar Schleefs Nietzsche-Trilogie „Gewöhnlicher Abend. Messer und Gabel. Ettersberg“ in Regie von Thomas Bischoff zum zähen Brei

Nietzsches letzte Tage: Eine Grauzone, die auszumalen schon viele gereizt hat

von JAN ENGELMANN

Der Übermensch sitzt in der Badewanne, nackt und hilflos seinen affenliebenden Weibchen ausgesetzt. Mutter schrubbt und bürstet ihn gewissenhaft, zieht den Feudel genussvoll durch die Zwischenräume der Zehen. Mit ihrem weißen Plastiklatz sieht sie ganz aus wie jemand, der den Sohn gleich zur Schlachtbank führen wird.

Die Schwester steht etwas am Rande, ungeduldig auf den Wachwechsel wartend. Ihr Blitzen in den Augen verrät etwas von den unterschwelligen Konkurrenzen, die da ablaufen. Später wird ein Bankett zu Ehren des Wiedergenesenen vorbereitet. Ein Streit um die Sitzordnung entsteht, die Frauen neiden einander den großen Auftritt im Kleid. Der Sohn klammert sich krampfhaft an Messer und Gabel. Er breitet die Arme aus und sieht aus wie der Gekreuzigte. Gerichtet durch die Tyrannei der familiären Intimität.

Ja, so könnte es gewesen sein, in jener langen Periode zwischen Nietzsches Turiner Zusammenbruch in den ersten Januartagen 1889 bis zu seinem endgültigen Tod am 25. 8. 1900.

Zunächst heimgeholt nach Jena, wird der „Herzensfritz“ nach dem Tod der Mutter von Schwester Elisabeth 1897 nach Weimar gebracht. Auf Grund ihrer gescheiterten Ehe mit Bernhard Förster, der in Paraguay eine arische Kolonie namens „Nueva Germania“ errichten wollte, lenken sich ihre Ambitionen nun wieder auf das alte Lieblingsobjekt. Eine Pilgerstätte soll entstehen, um dem Denkertitan, obgleich kaum noch bei Troste, in gebührender Weise huldigen zu lassen.

Für Nietzsches Biografen ist es kein unerhebliches Problem, dass man für diese Zeit nur auf die nervenärztlichen Krankenjournale und die Briefe der Mutter zurückgreifen kann, da Elisabeth mit ihren geschichtsklitternden Erinnerungen ohnehin nur Eigen-PR betrieb. Für den künstlerischen Freigeist dagegen ist diese Grauzone ein stets aufs Neue auszumalender Weißraum, eine willkommene Gelegenheit, die in den Wahnsinn kippende Selbstapotheose eines wilden Denkers auf die eigenen Ambitionen zurückzuspiegeln.

Der Einladung zum Kongenialen wurde gerne nachgekommen: Der verlässlich-wütende Johann Kresnik erstellte ein getanztes Nietzsche-Psychogramm, der schriftstellernde Philosoph Peter Sloterdijk parkte ihn im Menschenpark der „Anthropotechniken“, und für Einar Schleefs sorgsam orchestriertes Körpertheater hatte Nietzsche ebenfalls die entscheidenden Stichwörter geliefert: „Man muss alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen.“

Body Politics also. Signale eines widerständigen Mannes, der um die Unzulänglichkeiten seines Körpers weiß und tobend dagegen aufbegehrt. Eine anstrengendere Wahlverwandtschaft kann man sich nicht aussuchen. Vom Stotterer Schleef wissen wir, dass er mit eiserner Disziplin an der Einstudierung des furiosen „Ecce Homo“-Monologs für die Inszenierung von „Verratenes Volk“ arbeitete, der vor zwei Jahren die Zuschauer im Deutschen Theater in die Sitze drückte.

Dabei war dieser Auftritt gewissermaßen nur ein Versuchsballon, ein theatralischer Sendersuchlauf, um für die Rolle als Söhnchen Nietzsche endlich zusammenzutexten, was für Schleef offenbar immer zusammengehörte: das Dasein als unverstandener Solitär, die kraftstrotzende Hybris, die Kleinbürgerlichkeit der Herkunft. Ein Lebenswerk der Mutter zum Gruße, ob nun Gertrud oder Franziska geheißen. Es wurde alles eins, bis in die Parallelisierung der Lebensdaten hinein.

Nach Schleefs Herztod im letzten Sommer musste dieses Höllengebräu an der Volksbühne ein anderer anrühren. Doch was Thomas Bischoff aus der Trilogie „Gewöhnlicher Abend. Messer und Gabel. Ettersberg“ letztendlich macht, ist ein dreistündiger zäher Brei.

Nur wenig ist zu spüren von der Explosivität der dramatischen Vorlage, die die Inzest-Ökonomie des Pfarrerhaushaltes und die örtliche Nähe zum KZ Buchenwald als emotionale Treibmittel veranschlagt.

Das Bühnenbild (Uta Kala) ist betont spartanisch gehalten, eine rot-grün gekachelte Drehbühne, die Nietzsches ewige Wiederkunftslehre in ein knarzendes Hamsterrädchen übersetzt. Doch damit tritt auch die Inszenierung auf der Stelle. Zwar darf sich Herbert Fritsch nach Herzenslust austoben, aber selbst seine brutalstmöglich speienden Wutausbrüche versacken in dieser strengen Anordnung, die mit zwei kurzen Momenten ihr Vorbild zitiert.

Bischoffs auffälligste Regie-Entscheidung, die Aufspaltung der Mutterrolle auf zwei Schauspielerinnen (toll: Jennifer Minetti und Karin Neuhäuser), erweist sich als zunächst schlüssig aus dem Perspektivismus Nietzsches gefolgert, der die Suche nach einer einzigen Wahrheit verhöhnte.

Nach näherem Hinsehen wird dem Zuschauer jedoch klar, dass es sich bei dem Hin und Her von Textpassagen, dem Pingpong psychologischer Instanzen, vor allem um eine pragmatische Maßnahme handelt.

Denn sonst wäre der haltlose Gedankenstrom, den Schleef aufs Papier warf, kaum zu memorieren gewesen. Vor allem Silvia Rieger als Tochter ist die Nervosität bei der Umschiffung der textlichen Klippen schon physisch anzumerken.

Was hätte man nicht alles freilegen können an destruktiver Energie, die sich da unter der Decke protestantischer Frömmigkeit aufstaute! Nietzsche selbst gab den Härtegrad einer solchen Nachdichtung vor. In den späten Entwurfsstadien zu „Ecce Homo“ hatte er sich hasserfüllt Luft verschafft: „Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche … so finde ich immer meine Mutter und Schwester – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben, wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit.“

Doch die „vollkommene Höllenmaschine“, als der er diese Dreieckskonstellation (der Vater war früh verstorben) bezeichnete, verpufft hier zu spannungsloser, routinierter Mechanik. Es hätte wohl eines großen Intensitätstechnikers bedurft, um Schleef und Nietzsche gleichermaßen zu gefallen.

Das Publikum flüchtet in die Nacht. Es hat keinen Wahnsinnszettel als postume Gabe erhalten, allenfalls einen matten Gruß aus dem Jenseits.

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