strafplanet erde: nachtwachen bei misanthropischen temperaturen von DIETRICH ZUR NEDDEN:
Noch nie klang die These so restlos überzeugend, dass die Killergelüste heranwachsender Menschen stimuliert werden durch massenhaften Konsum von Splatter-Movies oder das Bedienen einer Spielekonsole zwecks reihenweisen Abmockerns von zweidimensionalen Wesen. Ganz andere Erlebnisse via Bildschirm, so meine Gegenthese seit neulich Nacht, richten erheblich mehr Schäden an, materielle und immaterielle. Sie sind in der Lage, einen solchen Hass im Kopf des Betrachters zu erzeugen, dass der Schritt zur Gewalt gegen Sachen oder Personen nur noch ein paar Millimeter überbrücken müsste, um eben dort anzukommen.
Des Nachts den TV-Kanal Home Shopping Europe anzuknipsen zum Beispiel kann waaahnsinnige Agrrrressionen auslösen. Da quatschen dir unheimliche Gestalten einen kompletten Kurzwarenladen an die Backe, und du bist ihnen wehrlos ausgeliefert, denn es ist ja nicht wahr, dass man den Fernsehapparat einfach so ausschalten kann. Dann leben sie doch trotzdem weiter, diese schmeichelnden, ihre Opfer einspeichelnden Verkaufsasse und -assinen, das weiß man und fühlt sich stellvertretend für den guten Teil der Menschheit erst recht so, als ob man der permanenten und genussvoll ausgeführten Exekution letzter Rudimente humanen Geistes hilflos ausgeliefert ist.
Zum Glück waren alle Leitungen der Hotline besetzt, und deshalb konnte ich keine Bestellung aufgeben. „Nur noch 32 Stück“, schlug der Zähler oben rechts auf dem Bildschirm Alarm und kaum hatte ich das notiert, waren’s „Nur noch 27 Stück“. Wovon eigentlich?
Ist mir entfallen, könnte eine Nähmaschine oder eine Mähmaschine gewesen sein, egal, denn, gottlob, am nächsten Morgen kehrte „der Sommer, der fast vergessene“ zurück, wie es irgendeiner dieser spaßorientierten Wetterberichte formulierte. Mit dem Sommer kehrte die Sonne zurück und prallte gnadenlos auf die unvorbereiteten Einwohner unserer Stadt und trieb sie fluchtartig ins Freibad. Mich eingeschlossen, und zwar mitten zwischen Aberhunderten grazilen und gazellenhaften Leibern auf einem Flickenteppich aus Handtüchern und Decken, unter denen die Liegewiese versteckt war. Die Wahrheit über das physische Erscheinungsbild der Besucher: Wenigstens in puncto Übergewicht und Fettleibigkeit steht die Bevölkerung Deutschlands treu an der Seite der US-Amerikaner.
Und nun muss man sich das so vorstellen: Als Lektüre für den Freibadbesuch an einem gleißend heißen, stechend hellen Hochsommertag hatte ich die „Nachtwachen“ des „Bonaventura“ dabei, ein düster-heiteres Werk der mittlerweile nicht nur vereinzelt stockfleckig gewordenen Romantik. Das Büchlein ist grimmigster (Pseudo?-)Nihilismus, und der erzählend-räsonierende Nachtwächter Kreuzgang erinnert irgendwie und in einiger Ferne an Eric Bogosians „Talk Radio“-Moderator. Das Reclam-Heft kostet übrigens wahrscheinlich weniger als jeder Anruf bei Home Shopping Europe, von den Produkten ganz zu schweigen. Abends setzte ein geruhsamer Regen ein.
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